Klimawandel und Pflanzen-MigrationDas Rätsel um die wandelnden Wälder
Warum breiten sich Nadelbäume nicht viel weiter nach Norden aus, wo es wärmer geworden ist? Forschende haben eine Antwort und sagen, wo sie neue Wälder erwarten.

Die Grenzlinie scheint auf den ersten Blick willkürlich gezogen zu sein. Im Osten der Brookskette im Norden Alaskas bricht der Weissfichtenwald auf einmal ab und gibt den Raum weiter nördlich frei für die arktische Tundra, eine Steppenlandschaft, die von Flechten, Moosen und kleinen Sträuchern dominiert wird. Wo die Baumgrenze verläuft, bestimmt ein unsichtbarer Faktor: die Temperatur. Deshalb sollte man erwarten, dass die borealen Nadelwälder, die sich wie ein Ring um die Nordhalbkugel ziehen, infolge des Klimawandels in Richtung der Pole vorrücken; zumal sich die Region doppelt so schnell erwärmt wie im globalen Mittel.
Nur haben sie sich bislang nicht nach Lehrbuch verhalten: Ja, an einigen Stellen stiessen sie nordwärts vor. An anderen aber kamen sie trotz Erwärmung kaum oder überhaupt nicht voran. Ein Rätsel, das US-Umwelt-Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun gelöst zu haben meinen.
Meereis gibt Takt an
Das Team um Roman Dial von der Alaska Pacific University in Anchorage hat sich 19 Orte entlang der Brookskette angesehen, eines Gebirges, das sich über 1000 Kilometer vom Beringmeer im Westen bis zur Beaufortsee durch Alaska zieht und in den Nordwesten Kanadas hineinragt. Anhand von Satellitenbildern und Baumringdaten analysierten sie die Veränderungen der Baumgrenze und verglichen das mit dem Rückzug des arktischen Meereises im selben Zeitraum.
Dabei stiessen sie auf eine Korrelation: Dort, wo sich das Meereis stärker zurückgezogen hatte, breiteten sich die Nadelwälder in den Norden aus; dort aber, wo sich bis heute das ganze Jahr über eine Packeisschicht vor der Küste gehalten hat, blieben sie wie angewurzelt an Ort und Stelle. Eine anschliessende Metaanalyse erhärtete den Verdacht.
Warum aber sollte ausgerechnet das ferne Meereis Taktgeber für die Vorstösse des borealen Nadelwalds in die arktische Tundra sein? Das erklären die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun im Fachblatt «Science»: Liegt der Arktische Ozean im Herbst frei, heizt sich das Wasser stärker auf, da die dunklere Meeresoberfläche mehr Sonnenstrahlen absorbieren kann.
Strömt nun Kaltluft über die wärmeren Wasserflächen, kommt es zur Verdunstung, und die mit Feuchtigkeit vollgesaugten Luftpakete wandern ins Land. Die Folge: mehr Schneefall im Winter. «Dieser Schneefall schützt die Sämlinge vor den harten Winterbedingungen», sagt Dial. Dank der wärmeren Temperaturen reichere sich der Boden ausserdem mit Nährstoffen an, und die Bäume können besser wachsen. Sie profitieren also von den maritimen Bedingungen.
Nächste Veränderungen in Sibirien
Genau das lasse sich bereits an der Tschuktschensee beobachten, so Dial. Im Randmeer des Arktischen Ozeans zwischen Sibirien und Alaska habe die Fläche des Meereises im Oktober, also nahe dem Zeitpunkt ihrer geringsten Ausdehnung, seit dem Jahr 1979 um mehr als 12’000 Quadratkilometer abgenommen, was fast der Fläche Nordirlands entspricht. Dort konnten die Wälder expandieren.
An der Beaufortsee und im Osten Sibiriens hingegen hält sich das Meereis nach wie vor und unterdrückt somit die Expansion des Waldes. Dort sind den Autorinnen und Autoren zufolge deshalb auch erst mal keine grösseren Veränderungen für die nächsten Jahre zu erwarten, während sie den nächsten grossen Umbruch für den Westen Sibiriens prognostizieren.
Genau das sei ein grosser Fortschritt, sagt Ronny Rotbarth von der Universität Wageningen in den Niederlanden, der nicht an der Studie beteiligt war: Die neuen Erkenntnisse würden nun «zumindest eine grobe Vorhersage» erlauben, wohin sich der Wald in den kommenden Jahren am wahrscheinlichsten ausdehnen werde. «Das war bisher nur bedingt möglich», so der Umweltwissenschaftler.
Warum das wichtig ist, erkläre sich mit den Folgen der Waldbesiedlung: Diese könne nicht nur Kohlenstoffspeicher im Boden angreifen, sondern auch die regionalen Temperaturen ansteigen lassen, da die dunkleren Waldoberflächen mehr Sonnenstrahlen absorbieren, so die «Science»-Studie.
Nicht zuletzt würden die vorrückenden Wälder auch die Ökosysteme der Tundra unter Druck setzen und damit die Nahrungsgrundlage von indigenen Gruppen, die Beeren sammeln und Rentiere und Karibus jagen. «Die meisten der Tiere und Pflanzen, von denen sie abhängen, werden verschwinden, wenn sich die Landschaft verändert», sagt Dial.
Klimaleistung nimmt ab
Während sich die arktische Tundra in Nordamerika, Schweden und Sibirien zurückzieht, breitet sie sich weiter im Norden aus: Ein Team um den Geografen Michael Grimes von der Universität Leeds hatte kürzlich mittels der Analyse von Satellitenbildern festgestellt, dass Grönland in den vergangenen drei Jahrzehnten eine Eisfläche von der Grösse Albaniens verloren hat. Auf den nackten Felsen habe sich dann Tundravegetation ausgebreitet. Die Fläche habe sich im selben Zeitraum verdoppelt, die der Feuchtgebiete sogar vervierfacht, so die Ergebnisse einer Studie im Fachjournal «Scientific Reports».
So eine Verschiebung kann man auch beim borealen Nadelwald beobachten. Allerdings breite sich das grösste Landökosystem der Welt im Norden langsamer aus, als es sich im Süden zurückziehe, stellten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Rotbarth im vergangenen Jahr im Fachblatt «Nature Communications» fest.
Denn die Vorstösse benötigten viel Zeit, während im Süden die trockeneren und wärmeren Bedingungen für relativ schnelle Veränderungen sorgten. «Die Ausdünnung der borealen Wälder an ihrer südlichen Grenze schreitet mit raschen Schritten voran, verstärkt durch Waldrodung, Feuer oder Insektenbefall», sagt Rotbarth. «Für die Artenvielfalt, die Kohlenstoffspeicherung und damit die globale Regulierung des Weltklimas durch diese Wälder hat das ernst zu nehmende Folgen.»
Die Leerstelle, welche die borealen Nadelwälder hinterlassen, bleibt indes nicht lange frei: An ihren Platz treten die Laubwälder aus den gemässigten Breiten.
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