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Erdbeben in der Türkei und Syrien
Luxusresidenz wurde zur Todesfalle

Die Art des Einsturzes des Wohngebäudes hat Aufmerksamkeit erregt. 
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Beim Spatenstich 2011 stiessen der damalige türkische Justizminister, der Gouverneur der Provinz Hatay, der Bürgermeister der Stadt und der Polizeichef miteinander auf das Projekt an, das «ein Stück Paradies» werden sollte. Auf dem einstigen Olivenhain werde ein moderner, luxuriöser Wohnkomplex entstehen. Zwölf Stockwerke, Swimmingpool, Läden, Fitness und die Gemeinschaftsbereiche eines Fünfsternhotels: ein Gebäude, das einst in der Südtürkei neue Massstäbe für luxuriöses Wohnen und hochwertiges Bauen setzen und die Vororte des antiken Antakya in eine glänzende Metropole verwandeln werde.

Zwölf Jahre später ist von der Rönesans Rezidans, dem riesigen iPhone-förmigen Gebäude mit 249 Wohnungen, nur noch ein Trümmerhaufen übrig. Sein massives Skelett ist zu einem Denkmal dafür geworden, was schieflief, als am 6. Februar massive Erdbeben die Südtürkei und Nordsyrien erschütterten. Hunderte Bewohner kamen in den Trümmern ums Leben. Das Rönesans – übersetzt «Renaissance» – ist nun ein Symbol für den Verfall des türkischen Bauwesens.

In der Türkei ist die Zahl der Todesopfer mittlerweile auf über 44’000 Menschen gestiegen, in Syrien auf fast 6000. Tausende von ihnen starben unter den Trümmern von modernen, weniger als 20 Jahre alten Häusern. Diese Häuser wurden gemäss einem Regelwerk gebaut, das sicherstellen sollte, dass das Gebäude auch einem Jahrhundertbeben standhalten könnte. Wie die «Financial Times» berichtet, wurden gemäss ersten Schätzungen 750 Personen durch den Einsturz des Rönesans getötet. 

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Der Ärger über das Geschehene richtete sich nun gegen die Bauunternehmen, Architekten und Ingenieure, die jene Häuser errichtet hatten, die für so viele Menschen zu Gräbern wurden. Über 180 Personen wurden verhaftet, nach Hunderten anderen wird gefahndet. Ein Bauunternehmer wurde erwischt, als er auf einem Boot fliehen wollte, mindestens drei weitere wurden an Flughäfen festgenommen.

Einer davon war Mehmet Yaşar Coşkun, Gründer der Antis-Yapı-Gruppe, die das Rönesans gebaut hat. Einige Tage nach dem Beben wurde er festgenommen, als er am Istanbuler Flughafen in eine Maschine nach Montenegro steigen wollte. Der Polizei erzählte er, dass er nicht wisse, warum das Rönesans eingestürzt sei. Gemäss Coşkun hatte zuvor ein Gutachten ergeben, dass sich das Gebäude in einem «stabilen Zustand» befinde, dass Stahlbeton verwendet und die Bauvorschriften eingehalten worden seien. 

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Schon vor dem Beben gab es Sorgen wegen der Bauweise des Rönesans. Laut Ferit Şahin, dessen Bruder und Neffe im Rönesans ums Leben kamen, hat seine Familie bereits 2016 eine Klage gegen Antis Yapı eingereicht. Die Vorwürfe damals: Sicherheitsmängel, das Fehlen eines Erdbebenschutzraums und eines angemessenen Zugangs für Rettungsfahrzeuge. Die Firma dementierte alle Vorwürfe und die Klage blieb vor Gericht liegen. 

Gemäss Experten ist es noch zu früh, um definitiv feststellen zu können, wieso das Rönesans eingestürzt ist. In einem Punkt ist man sich jedoch einig: Ein solch moderner Block hätte sowohl dem ersten Beben der Stärke 7,8 als auch dem Folgebeben der Stärke 7,5, standhalten müssen. 

«Unsere Gebäude sollten solchen seismischen Kräften standhalten», meint Oğuz Cem Çelik, Professor für Bau- und Erdbebeningenieurwissenschaft an der Technischen Universität Istanbul. Schwere Schäden seien möglich, doch ein Kollaps sei «etwas anderes». «Es gibt eine rote Linie. Wir können einen Kollaps nie akzeptieren, egal wie stark die Erschütterungen waren.»

Eine Kombination zweier Satellitenbilder zeigt den Wohnkomplex (rechts neben dem Wäldchen) vor (22. Dezember 2022) und nach (8. Februar 2023) dem Beben.

Die Art des Einsturzes des Rönesans hat Aufmerksamkeit erregt. Gemäss Çelik ist es selten, dass ein neues Gebäude auf diese Art und Weise umstürzt. Dies deute auf Fehler in der Bauweise oder im Bauprozess hin.

Bauweise anfälliger für «Kippkräfte»

Einerseits sei die spezielle, schmale und rechteckige Form des Gebäudes ein Risiko gewesen, sagt Jane Wernick, eine britische Bauingenieurin und Beraterin von Engineers HRW. Eine Länge von 134 Metern traf auf eine Breite von 17 Metern. Das Verhältnis von 8:1 hätte eine spezielle Bauweise erfordert, so Wernick. Generell sei bei Gebäuden in Erdbebengebieten Symmetrie essenziell, ein quadratisches Gebäude wäre widerstandsfähiger gewesen, meint Mevlüt Kahraman von der Bilkent-Universität. Der Direktor für Bauwesen geht davon aus, dass das lange Gebäude anfälliger für die «Kippkräfte» des Erdbebens gewesen war. 

Ein weiterer Faktor sei der Boden unter dem Gebäude. In einem erdbebengefährdeten Gebiet bestimme die Beschaffenheit des Bodens, wie die Kraft eines Bebens übertragen werde, so Kahraman. Bei der Planung eines neuen Hauses beziehen Ingenieure daher den Boden in ihre Berechnungen mit ein. In der Provinz Hatay ist weicher Boden weitverbreitet – ein Boden, der Erdbebenwellen verstärken kann.

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Auch die Materialien spielen eine Rolle. Normalerweise werde in grösseren Gebäuden Beton mit Bewehrungsstäben aus Stahl verstärkt, so Kahraman. Bewehrungsstäbe seien vor allem in erdbebengefährdeten Gebieten wichtig, da Gebäude aufgrund der Erschütterungen auf ihrem Fundament schwanken könnten. Während Beton gut mit Druckkräften umgehen könne, wirke der Stahl bei Zugkräften, die aufträten, wenn ein Haus ins Wackeln gerate. 

Behörden unter Verdacht

Das Gebäude sei nach dem Beben fast «zerbrochen», bevor es seitlich eingestürzt sei, beschreibt der Angehörige eines Opfers. «Es blieb einzig ein riesiger Trümmerhaufen, auf dem das Skelett des Gebäudes lag. Das erschwerte die Rettung.»

«Auf Fotos sieht es aus, als hätten sich die Wände vom Fundament gelöst – möglicherweise als Folge enormer Zugkräfte», meint Jane Wernick. Gemäss Mevlüt Kahraman waren die Wände der Eingangshalle höher als jene der oberen Stockwerke. Dieses Ungleichgewicht könne während eines Bebens zu einer potenziellen Schwachstelle werden. 

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Laut Cesim Parlak, dem Anwalt von Opferfamilien, besteht der Fokus zurzeit auf das Sammeln technischer Beweise, bevor der Schutt weggeräumt wird. Sollte sich die Behauptung des Bauherren Coşkun, dass mit geeigneten Baumaterialien gearbeitet worden sei, bewahrheiten, läge die «Hauptverantwortung» bei den öffentlichen Behörden, die einem Projekt eine Baugenehmigung erteilt haben, das für diesen Standort nicht geeignet war. Nur 26 Kilometer in nordöstlicher Richtung der Rönesans Rezidans entfernt liegt die ostanatolische Störungszone, die Ursache für das Beben. «Wenn wir die Schuld nur dem Bauunternehmen geben, werden wir beim nächsten Erdbeben die gleichen Fehler wiederholen.»

Bürgermeister: «Sehr wahrscheinlich korrekt gebaut»

Es wird geschätzt, dass in der gesamten Türkei 6,7 Millionen Wohnhäuser nachgerüstet oder neu gebaut werden müssten, um modernen Standards zu entsprechen. Gemäss einer Aussage der Weltbank im Jahr 2021 würden sich die Kosten dafür auf 465 Milliarden Dollar belaufen. Nur in gerade 4 Prozent der Fälle wurden die nötigen Arbeiten bereits durchgeführt. 

Der Bürgermeister von Antakya, Lüftü Savaş, war an der Grundsteinlegung 2011 des Rönesans dabei und stärkt dem Bauherrn Coşkun seit dem Erdbeben den Rücken. Dem Fernsehsender Show TV sagte er, Coşkun sei ein «Idealist», der «sehr wahrscheinlich korrekt gebaut hat». Später liess Savaş verlauten, dass sein Amt gar nicht involviert gewesen sei bei der Lizenzierung des Rönesans, dass dies auf Bezirksebene gehandhabt worden sei. Gegenüber der «Financial Times» erklärt Savaş: «Es ist nicht das einzige neue Gebäude, das eingestürzt ist. Es wäre falsch, zu sagen, dass es hier nur um das Rönesans gehe.»

Das Rönesans im November 2022. 

Wenige Tage nach dem Beben bemerkte der Anwalt Parlak, dass die Behörden mit dem Abriss des Provinzbüros des Ministeriums für Stadtentwicklung in Hatay angefangen haben – dem Ort, an dem Baugenehmigungen und Inspektionsberichte gelagert werden. Das einstöckige Gebäude stand zu diesem Zeitpunkt noch und niemand war darin eingeschlossen.

Mithilfe eines Gerichtsbeschlusses konnten die Anwälte den Abriss schliesslich stoppen und einige Dokumente retten. «Ein sehr grosser Teil der Dokumente ist verloren gegangen», räumt Parlak ein. 

Noch 80 Menschen unter den Trümmern

Keine andere Provinz der Türkei wurde durch das Erdbeben so schwer getroffen wie Hatay. Gemäss der Weltbank wurden 30’000 Häuser schwer beschädigt oder stürzten ein. Eine separate Studie der Technischen Universität in Ankara kam zum Schluss, dass die meisten der betroffenen Gebäude vor 2000 erbaut wurden. Zwischen 1998 und 2001 wurde eine Reihe strengerer Vorschriften erlassen, teilweise als Folge eines verheerenden Erdbebens im Jahr 1999 im Nordwesten der Türkei, bei dem mehr als 17’000 Menschen ums Leben kamen. 

Trotz der strengeren Vorgaben wurden über 1000 Häuser, die nach 2000 erbaut wurden, beim Beben schwer beschädigt oder zum Einsturz gebracht. Dazu zählt auch das Rönesans, das 2013 fertiggestellt wurde. Die Experten sind sich einig: «Das ist eine wichtige Beobachtung, die zu weiteren Untersuchungen des Designs und der Qualität der Bauweise dieser Gebäude führen muss.»

Im Trümmerhaufen des Rönesans wird noch nach den Überresten von über 80 Personen gesucht. Verwandte haben DNA-Proben eingereicht und warten auf das Ergebnis. 

«Diese Wohnungen wurden unter dem Slogan ‹Ein kleines Stück Paradies› verkauft, aber für meine Familie bedeuteten sie das Ende», sagt Suphi, der neben dem zerstörten Gebäude Wache hielt, bis die Leichen von drei Familienangehörigen acht Tage nach dem Beben geborgen wurde. Es waren seine Mutter, sein Bruder und sein achtjähriger Neffe, die ins Rönesans gezogen waren, damit der Junge «an einem guten Ort aufwachsen» könne, erzählt Suphi, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte. «Aber es gab kein Entkommen, sie hatten nie eine Chance.»

Das Ausmass der Zerstörung in Antakya. (19. Februar 2023)