Verkehrspolitik des Bundesrates Volk soll über den nächsten Autobahnausbau abstimmen
Vier Milliarden Franken will der Bund in neue Autobahnen investieren. Jetzt wird ein nationales Referendum wahrscheinlich.
Chronisch überlastete Autobahnen, tägliche Stauwarnungen: Die Situation rund um die grossen Städte ähnelt sich, ob in Bern, Basel, Schaffhausen oder in St. Gallen. Der Bundesrat hat ein Rezept dagegen: die Nationalstrassen in diesen Gebieten ausbauen. Sonst drohe eine weitere Verschärfung der schon bestehenden Engpässe. Voraussichtliche Kosten: 4 Milliarden Franken. Realisierungshorizont: 2030.
In St. Gallen zum Beispiel soll eine dritte Röhre im Rosenbergtunnel und ein neuer direkter Zubringer mitten in die Stadt zum Güterbahnhof Abhilfe schaffen. Es handelt sich dabei um das letzte grosse freie Areal in der Stadt. «Die Stadtautobahn würde sich in Form einer Blechlawine direkt vor meinem Haus ergiessen», sagt Florim Sabani, parteilos. Er hat mit etlichen Mitstreitern von links bis in die Mitte den Verein «Gegen den Autobahnanschluss beim Güterbahnhof» gegründet. Der 35-jährige Forstingenieur kann nicht nachvollziehen, dass man in der heutigen Zeit überhaupt noch Autobahnanschlüsse mitten in die Stadt legen will. Und er ist nicht allein: Das St. Galler Stadtparlament fordert ebenfalls, von diesem Vorhaben Abstand zu nehmen.
Nicht nur Linke gegen Ausbau der Autobahnen
Auch in Bern ist der Widerstand gross gegen den Plan des Bundesrats, die Autobahn im Bereich Grauholz von sechs auf acht Spuren auszubauen. Nicht nur linke Kreise sind dagegen. Die Bauern opponieren, weil ihnen ein Flächenverlust von gut 13 Hektaren droht. Selbst der bürgerlich dominierte Gemeinderat der betroffenen Agglomerationsgemeinde Zollikofen will nichts von diesem Projekt wissen. Gemeindepräsident Daniel Bichsel sagt im Onlineportal Hauptstadt.be: «Wir befürchten eine Mehrbelastung für Landwirtschaft und Natur, so etwa der Biodiversität.»
In Basel gibt es Kritik am geplanten Neubau eines Rheintunnels zwischen Muttenz/Birsfelden und dem Norden Basels, laut den Befürwortern ein «stadtverträglicher Autobahnausbau». Am kommenden Sonntag stimmen die Basler über die von linksgrünen Kreise lancierte Klimagerechtigkeitsinitiative ab, die will, dass die Stadt bis 2030 klimaneutral wird, und einen Gegenvorschlag (klimaneutral ab 2037). Gibt es ein Ja, ist für die Grünen klar: Dann müsste sich der Kanton gegen «klimaschädliche» Verkehrsprojekte wie den 2,36 Milliarden teuren Rheintunnel zur Wehr setzen – was er heute nicht tut.
Umverkehr will das Referendum ergreifen
Ob die Schweizer Bevölkerung die Bedenken der Ausbaugegner teilt, dürfte sich in absehbarer Zeit zeigen. Zwar müssen nächstes Jahr noch National- und Ständerat darüber befinden. Sollten sie den Entscheid des Bundesrats aber «nicht grundsätzlich ändern», wird der Verein Umverkehr das Referendum ergreifen. Diesen Beschluss hat der Vorstand am Mittwoch gefasst, wie Geschäftsleiter Silas Hobi bestätigt.
«Ein Autobahnausbau verunmöglicht es, das von Bundesrat und Parlament anvisierte Klimaziel netto null bis 2050 zu erreichen.»
Das Geschäft sollte voraussichtlich im Sommer die beiden Räte passiert haben. Ein Volksentscheid über fünf neue Autobahnteilstücke, gebündelt in einer Abstimmung, wäre eine Besonderheit für die Schweiz. 1990 hatten Volk und Stände zwar schon mal über drei Ausbauprojekte befunden; allerdings galt jede der drei – schliesslich abgelehnten – Volksinitiativen damals einem separaten regionalen Projekt.
Und noch etwas ist speziell. Umverkehr will mit dem Referendum einen Grundsatzentscheid provozieren: Klimaschutz und Autobahnausbau – geht das zusammen? Für die Co-Präsidentin und grüne Nationalrätin Franziska Ryser ist klar: «Ein Autobahnausbau verunmöglicht es, das von Bundesrat und Parlament anvisierte Klimaziel netto null bis 2050 zu erreichen.» Es brauche eine konsequente Verlagerung auf den Fuss- und Veloverkehr sowie den ÖV. Dies gilt ihrer Ansicht nach selbst für den Fall, dass der heute hauptsächlich fossil betriebene Verkehr elektrifiziert wird. Denn Elektroautos seien über den gesamten Lebenszyklus betrachtet nicht klimaneutral.
Diese Sicht ist jedoch umstritten. Zwar sei Rysers Befund korrekt, sagt SVP-Nationalrat Benjamin Giezendanner, der den Autobahnausbau befürwortet. Doch seien auch die Module von Fotovoltaikanlagen nicht CO2-neutral. «Sie müssten also in dieser Logik auch verboten werden.» Giezendanner wirft den Grünen vor, noch immer die Bahn gegen die Strasse auszuspielen. Und er argumentiert mit einem Volksentscheid: 2017 hat das Stimmvolk bewilligt, dass die Strasseninfrastruktur ausgebaut und modernisiert werden soll.
Tatsache ist: Das Elektroauto ist daran, die politische Debatte über den motorisierten Individualverkehr zu verändern. «Wir sind überzeugt, dass Klimaneutralität mit Elektromobilität möglich wird», sagt Jürg Grossen, Chef der Grünliberalen, der den Elektromobilitätsverband Swiss E-Mobility präsidiert. «Der Individualverkehr wird auch in Zukunft seinen Platz haben.» Ein Ausbau von Autobahnengpässen könne jedoch höchstens punktuell Sinn machen. Es brauche in erster Linie ein Gesamtverkehrskonzept, damit der «Verkehr endlich mit mehr Intelligenz statt mit immer mehr Beton abgewickelt wird».
Doch die Frage bleibt: Verbietet es der Klimaschutz, Autobahnen auszubauen? Das Umwelt- und Verkehrsdepartement Uvek von Simonetta Sommaruga beantwortet die Frage nicht direkt. Es hält nur allgemein fest, dass es eine Verkehrspolitik verfolge, «die darauf abzielt, die Auswirkungen des Verkehrs auf die Umwelt möglichst zu reduzieren», etwa mit der Förderung der Bahn.
Dezidiert äussern sich dagegen befragte Experten wie Anton Gunzinger. Der Unternehmer und emeritierte ETH-Professor hält es für unsinnig, den Autoverkehr mit neuen Autobahnen weiter zu fördern, denn dieser sei punkto Flächenverbrauch das ungünstigste Transportmittel. Vielmehr brauche es ein Roadpricing, das die Anreize so setze, dass viel befahrene Routen zu den Stosszeiten preislich unattraktiv würden. Die Stauprobleme würden sich so von selber lösen. Im Idealfall, so Gunzinger, würden alle Verkehrsteilnehmer die Kosten, die sie verursachen, selber tragen. Das hiesse: Bahnfahren würde doppelt so teuer, Autofahren gar fünfmal. «Mobilität ist heute zu billig, das ist das eigentliche Problem», sagt Gunzinger.
Vorsichtiger äussert sich Kay Axhausen vom Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme der ETH Zürich. Beim heutigen Ausbau gehe es im Wesentlichen um die Erhaltung der heutigen Standards, sagt er. «Man kann fragen, ob das gerechtfertigt ist zu einer Zeit, da die Schäden des Klimawandels gefühlt für viele noch weit weg sind.» Eine schwierige Frage, findet Axhausen. Und sagt: «Will sich der Bund auf eine Verzichtsdebatte einlassen?»
Die Anzahl der Staustunden steigt wieder an
Mehrheitsfähig wäre ein solches «Fair-Pricing», wie es Gunzinger nennt, wohl kaum. Davon zeugen die bisherigen Bemühungen, den Verkehr via Preis besser zu lenken: Sie versanden oder kreisen als geplantes Projekt in der Endlosschleife von Politik und Verwaltung. Hinzu kommt: Das Auto wird gemäss Verkehrsprognosen des Bundes gegenüber dem öffentlichen sowie Langsamverkehr bis 2050 nur wenig an Terrain verlieren. Und schliesslich: Die Zahl der Staustunden geht seit Jahren nach oben und hat nach einem Corona-bedingten Einbruch 2020 letztes Jahr wieder ein ähnliches Niveau wie vor der Pandemie erreicht, Tendenz steigend.
Darum stellt sich die Frage: Was geschähe in der Realität, wenn die Strassen nicht mehr ausgebaut würden? Würde sich der Verkehr nicht einfach mehr stauen und die volkswirtschaftlichen Schäden, die heute schon in die Milliarden gehen, weiter vergrössern?
Für den St. Galler Florim Sabani ist klar, dass es den Stau sowieso gäbe, sei es mit mehr oder weniger Kapazität: «In erster Linie würde aber ohne Ausbau mehr Geld zur Verfügung stehen, welches wir wiederum für eine soziale Verkehrswende einsetzen könnten und so einen Einfluss auf die Wahl der Verkehrsmittel hätten.» Wenn man immer wieder versuche, die heutigen Probleme mit Lösungen aus den 1960er-Jahren zu lösen, würden sich auch immer wieder die gleichen Probleme ergeben.
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