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Interview zu Frauenlage in Afghanistan
«Viele Frauen fühlen sich im Stich gelassen»

Moderne Frauen in Afghanistan: Beauty-Salon in Kabul, 25. April 2021.
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Nadia Nashir ist Vorsitzende des Afghanischen Frauenvereins in Deutschland. Dieser setzt sich seit 1992 mithilfe von Spenden in mehr als 14 Selbsthilfeprojekten für Wiederaufbau und Frieden in Afghanistan ein. Im Interview spricht sie über den Nato-Truppenabzug und die ungewisse Zukunft der Frauen und Mädchen im Land.

Frau Nashir, Sie sind in Kunduz gross geworden und beschreiben die Stadt Ihrer Kindheit als friedlich und relativ weltoffen. Die Region ist ein Kriegsgebiet. Wie sieht denn heute eine Kindheit in Kunduz aus, besonders für Mädchen?

Wir haben damals in den Pausen noch Volleyball mit unseren Lehrern gespielt, sind in Clubs und Restaurants gegangen, haben mit den Jungs Musik gehört. Vieles davon ist nicht mehr möglich. Ich bin noch oft in Kunduz und erlebe, dass die Gesellschaft viel strikter und konservativer ist als damals. Die Menschen haben grosse Sorgen, und die Frauen besonders. Seit dem Abzug der Nato-Kampftruppen 2014 sind die Distrikte rund um Kunduz wieder in der Hand der Taliban. Wir haben dort ein Brunnenprojekt und je eine Schule für Knaben und für Mädchen mit über tausend Kindern. Wenn die Taliban hier wieder grösseren Einfluss bekommen, würden sicher die Kleiderordnung, die Geschlechtertrennung und der Lehrplan konservativer.

1996 bis 2001, unter dem Regiment der Taliban, waren Frauen Menschen zweiter Klasse in Afghanistan; vielerorts haben die Islamisten Mädchenschulen geschlossen.

Wir hoffen, dass diese Zeit vorüber ist. Die Taliban-Kommandanten im Raum Kunduz haben jedenfalls mehrmals die Schulleiter dort zusammengerufen und ihnen erklärt, dass auch der Unterricht für Mädchen weitergehen soll, dass Lehrkräfte weniger Fehlzeiten haben sollen, sich aber die Fächer stärker an der Religion ausrichten sollen, so, wie die Taliban sie verstehen, und dass Männer keine Schülerinnen und Frauen keine Schüler unterrichten dürfen.

An den Taliban als Machtfaktor kommen Sie nicht vorbei?

Nein. Die Taliban haben in der Provinz ja längst eine Parallelregierung aufgebaut, die sogar eigene Schulen betreibt. Also, wir rechnen nicht mit dem Worst Case, dass Mädchen wieder von der Bildung ausgeschlossen werden, aber mit Einschränkungen, die wir natürlich vollkommen ablehnen. Wir hatten damals in der dunklen Zeit unter den Taliban ab 1999 sogar eine Mädchenschule betrieben. Im Verborgenen haben wir mit 20 Mädchen begonnen, die waren so tapfer und mutig! Heute sind es im Ort über 600 Schülerinnen. Und viele der Ehemaligen sind heute Ärztinnen oder Lehrerinnen, darauf sind wir sehr stolz. (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Diese Frau hat keine Angst vor den Taliban».)

«Das kann man sich in Europa gar nicht vorstellen, welche Bedeutung Bildung in einem so armen Land hat.»

Und niemand hat Sie verraten?

Nein, weil wir in den Dörfern viel Unterstützung bekommen haben. Von aussen sah die Schule damals aus wie ein ganz normales Haus, und alle haben das unterstützt. Wir haben sie «Roshani» genannt, das heisst Lichtblick.

Aber es war sehr gefährlich?

Das war natürlich extrem gefährlich. Doch es war auch ermutigend, dass die Dorfältesten, die Väter und Brüder der Schülerinnen auf unserer Seite standen. Ohne sie hätten wir das nicht geschafft. Und bis heute kommen aus den entlegensten Dörfern Fragen von Dorfältesten, ob wir nicht eine Mädchenschule dort bauen oder unterstützen könnten. Manchmal heisst es: Ich kann nicht lesen und schreiben, aber unsere jungen Frauen sollen es einmal besser haben. Das kann man sich in Europa gar nicht vorstellen, welche Bedeutung Bildung in einem so armen Land besitzt.

Wie gefährlich ist es denn für Mädchen gerade auf dem Land, zur Schule zu gehen?

Die Schulwege sind sehr weit, und es kann in den Provinzen jederzeit zu Gefechten zwischen der Armee und den Taliban kommen. Auch sind viele Strassen nicht asphaltiert, was ein Problem ist, denn es liegen überall noch verborgene Sprengsätze herum. Schülerinnen sind wie alle Zivilisten in Gefahr, zwischen die Fronten zu geraten. Das zeigt auch der erschütternde Anschlag im vergangenen Monat in Kabul, der so viele unschuldige Schulmädchen das Leben gekostet hat. Waren es die Taliban, der IS oder eine Splittergruppe?

Direkte Angriffe hat es auf Ihre Schulen noch nicht gegeben?

Doch, leider. Vergangenes Jahr wurde unsere Bojasar-Mädchenschule in Brand gesteckt, sie liegt etwa 40 Kilometer vor Kabul, und wir wissen nicht, wer die Täter waren. Die Polizei hat die Täter noch nicht gefunden. Das war schlimm. Wir sind froh, dass wir seitdem keine weiteren Vorfälle hatten und alle Projekte gut und sicher laufen. Auch die Dorfgemeinschaften setzen sich für sie ein und schützen sie. Väter haben ihre Töchter weiter in die Schule geschickt, viele haben dort sogar Wache gestanden, falls die Täter zurückkommen sollten.

«Das schlimmste Szenario wäre Krieg»: Nadia Nashir, afghanisch-deutsche Frauenaktivistin.

Mit welchen Gefühlen sehen besonders die Afghaninnen den Abzug der Nato-Truppen?

Viele Frauen fühlen sich im Stich gelassen, und sie betrachten den Einsatz der Nato als gescheitert. Es wurde anfangs so viel versprochen: Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit, Frauenbefreiung. Es gab zwar Erfolge, aber im Grossen und Ganzen wurden diese Ziele nicht erreicht. Wir werden auf internationale Hilfe angewiesen bleiben, vor allem auf diplomatische Unterstützung. Die Erwartungen etwa an die USA und Europa sind daher hoch, dass sie zuverlässige Partner bleiben. Die Sorge ist aber, dass der Westen so erleichtert ist, die Mission endlich zu beenden, dass er uns wie eine heisse Kartoffel fallen lässt.

Wie soll diese Hilfe aussehen, wenn das Militär nicht mehr dort ist?

Wir haben ja bereits eine schreckliche Zeit der Taliban-Herrschaft erlebt. Und kaum jemand in der afghanischen Zivilgesellschaft, schon gar nicht die Frauen, wünscht sich eine Wiederholung dieser Zeit. Daher muss die Regierung stark genug bleiben, um eine politische Lösung zu finden. Ohne Hilfe von aussen, auch finanzielle, geht das aber nicht. Sonst wird die Armee auseinanderfallen. Und viele bewaffnete Gruppen, Polizeitruppen und Milizen, die jetzt im Dienst der Regierung stehen, werden das tun, was sie schon immer getan haben: die Seite wechseln, um bei den Siegern zu sein.

Und das Szenario des schlimmsten Falls wäre die Rückkehr der Taliban an die Macht?

Das schlimmste Szenario wäre Krieg. Und ja, unter den Frauen besteht grosse Angst und Unsicherheit, was sie mit den Taliban erwartet. Doch viele haben Hoffnung, dass die Weltgemeinschaft eine Situation wie damals nicht noch einmal zulässt.

«Wie schon ab 2001 hat man auch jetzt über die afghanische Zivilgesellschaft hinweg entschieden.»

Was denken Ihre Schülerinnen in Kunduz?

Unsere Schule wird hoffentlich weiterlaufen, was immer geschieht. Wir haben zum Glück sehr starke, junge Frauen, Afghanistan ist eine ganz junge Nation. Heute pochen viel mehr Mädchen auf ihr Recht auf Bildung. Diese junge Generation hat den Taliban-Terror gar nicht mehr bewusst erlebt. Die Jungen sagen ihre Meinung und demonstrieren auf der Strasse, sie sind im Netz sehr aktiv, dabei riskieren sie einiges.

Hätten die Staaten, die sich in Afghanistan engagierten, mehr für die Zivilgesellschaft tun müssen?

Ja, schon. Man unterstützte oft falsche Personen, vergass beim «Nation Building» die Einbindung und Stärkung der Zivilgesellschaft. Die Nachhaltigkeit hat gefehlt. Und schnell dominierte die Operation «Enduring Freedom», die militärische Bekämpfung des Terrors. Wie schon ab 2001 hat man auch jetzt über die afghanische Zivilgesellschaft hinweg entschieden. An den Verhandlungen zwischen der Trump-Regierung und den Taliban war sie kaum beteiligt. Und die Leidtragenden werden wie immer die Armen sein, die keine Möglichkeit haben, das Land zu verlassen. Und die Frauen und ihre Menschenrechte. (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Viele Männer hatten Angst vor einer Frau».)