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Analyse zum Supreme Court der USA
Verstörendes Spektakel um Ginsburg-Nachfolge

Eine wichtige Institution der US-Demokratie: Der Supreme Court mit der verstorbenen Ruth Bader Ginsburg in der vorderen Reihe.
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Der Vorstoss war einer Diktatur würdig: Weil der Staatspräsident im Dauerstreit mit dem Obersten Gericht lag, wollte er dort ein halbes Dutzend weiterer Richter einsetzen, um Urteile in seinem Sinne zu erzwingen. Diese Episode klingt nach Militärregime, stammt aber aus den USA: Franklin D. Roosevelt zielte damit 1937 auf den Supreme Court. Weil selbst Parteifreunde empört waren, scheiterte die Justizkorrektur.

Auch in Demokratien lauert stets die Versuchung, dem Recht auf die Sprünge zu helfen. Seit dem Tod der Richterin Ruth Bader Ginsburg droht nun dem Supreme Court Ungemach. Nachdem Washingtons Politiker den Ruf von Exekutive und Legislative ruiniert haben, knöpfen sie sich nun eine der ehrwürdigsten Institutionen der westlichen Welt vor.

Das Gericht hat beharrlich die Freiheit verteidigt und war stets die letzte Instanz, in der sich unter Streitenden noch Gemeinsamkeiten finden liessen – und sei es nur die Bereitschaft aller, das finale Urteil hinzunehmen. Nun steht infrage, ob das so bleibt. Das verstörende Spektakel um Ginsburgs Nachfolge dürfte eine bleibende Warnung sein vor der Vereinnahmung der Justiz durch Parteipolitik.

Weil die Politik immer polarisierter wurde, wuchs die Bedeutung
der Judikative – als einzige entscheidungsfähige Instanz.

Der Konflikt schwelt seit 1973, als der Supreme Court Frauen ein Recht auf Abtreibung zugestand. Der christlich-konservative Teil Amerikas hat darin immer eine Ursünde gesehen, auch weil sich aus seiner Sicht das Gericht zum Gesetzgeber aufgeschwungen hatte. Bald beschlossen die Republikaner, eine konservativere Gesellschaft auch über die Gerichte herbeizuführen.

Den Richterkandidaten der Demokraten unterstellten sie immer öfter, diese verfolgten eine linke Agenda, was zu Totalblockaden bei der Bestätigung neuer Richter führte. Die Demokraten senkten schliesslich entnervt die notwendige Zweidrittelmehrheit für Bundesrichter im Senat auf eine einfache Mehrheit. Damit wurde ein Konsens, den es eh nicht mehr gab, noch weniger notwendig.

Weil die Politik immer polarisierter wurde und Präsident und Kongress einander immer öfter blockierten, wuchs die Bedeutung der Judikative noch – als einzige entscheidungsfähige Instanz. So erlangten etliche Urteile des Supreme Court eine Tragweite, die einst Gesetzen vorbehalten war, was die Parteien noch mehr dazu anspornte, sich die Macht am Gericht zu sichern.

Weil die Richterinnen und Richter eigenwillige Persönlichkeiten sind, stimmen sie zwar nicht immer im Sinne ihrer Partei, aber gerade deshalb achten besonders die Republikaner darauf, dass ihre Kandidaten ideologisch zuverlässig sind.

Repräsentativität des Supreme Court ist in Gefahr

Mit der relativen Ausgewogenheit, die sich der Supreme Court zuletzt noch bewahrt hat, dürfte es also weitgehend vorbei sein. Präsident Donald Trump und seine Partei wollen Ginsburg rasch durch eine Konservative ersetzen und würden dann über eine bequeme Mehrheit von sechs zu drei am Obersten Gericht verfügen.

Die Republikaner im Senat verstossen damit gegen ihre eigene «Regel», wonach im Wahljahr keine Richter bestätigt werden. 2016 half ihnen diese Regel, einen demokratischen Richter zu verhindern, heute stört die Regel, also verschwindet sie wieder.

Diese Mischung aus Willkür und Zynismus beschädigt den Ruf von Gericht und Politik, wobei das Gericht,
im Gegensatz zu manchem Strippenzieher im Capitol, tatsächlich einen Ruf zu verlieren hat.

Abschied von einer Ikone der US-Justiz: Der beflaggte Sarg mit dem Leichnam von Ruth Bader Ginsburg im Kapitol in Washington.

Die Republikaner fiebern nun dem ersehnten Erfolg entgegen: Mit dem Supreme Court können sie das Land auch dann noch steuern, wenn sie Weisses Haus und Senatsmehrheit verlieren sollten. Der Supreme Court könnte zum Beispiel Barack Obamas Gesundheitsreform oder sogar das Abtreibungsurteil zerschlagen.

Trump, der sich um Institutionen so wenig schert wie um die Wahrheit, dürfte das egal sein: Ihm geht es nur darum, zu gewinnen und sich für möglichen juristischen Streit nach der Präsidentenwahl zu rüsten.

Selbst ruhmreiche Verfassungsgerichte können Gesellschaften
nicht zusammenhalten, die nicht mehr zusammenhalten wollen.

Allerdings dürfte die Repräsentativität des Supreme Court nun dauerhaft infrage stehen, vor allem für die Wähler der Demokraten, die im Land die Mehrheit stellen. Erwartungsgemäss fordern nun immer mehr Demokraten Rache, etwa indem man neue Richterstellen am Supreme Court schafft und sie mit Linken besetzt. Fans der Serie «House of Cards» mögen das für angemessene Vergeltung halten.

Die Institution aber würde es unheilbar beschädigen. Letzte Instanz im Staat wäre dann die politische Partei, die gerade die besseren Tricks auf Lager hat. Und irgendwann würde sich eine US-Regierung dann schlicht weigern, sich den Urteilen des Supreme Court zu beugen. Eine Reform der überpolitisierten Richterwahl
wäre also geboten.

Selbst ruhmreiche Verfassungsgerichte können Gesellschaften nicht zusammenhalten, die nicht mehr zusammenhalten wollen. Hält man die Anhänger der jeweils anderen Partei grundsätzlich für fehlgeleitet oder gar niederträchtig, erklärt man die Justiz nur dann für legitim, wenn dort die eigenen Leute das Sagen haben.

Podium: Donald Trump ist der umstrittenste Politiker der Gegenwart. Im November stellt er sich der Wiederwahl. Wie sind seine Chancen? Wie ist seine Bilanz? Wird ihn Joe Biden schlagen? Und vor allem: Was bedeutet es für die USA und die Welt, wenn Trump vier weitere Jahre regiert? Darüber debattieren: Elisabeth Bronfen, Anglistikprofessorin an der Universität Zürich; Christof Münger, Ressortleiter International beim Tages-Anzeiger; Markus Somm, Publizist. Sonntag, 18. Oktober 2020, Kaufleuten, Pelikanplatz, Zürich. Türöffnung 19.00 Uhr, Beginn 20.00 Uhr. Ermässigter Eintritt mit Carte blanche.