«Nawalny» im Kino«Vergiftet? Come on …»
Der Dokumentarfilm über den Putin-Kritiker Alexei Nawalny ist spannend wie ein Thriller. Und man kann einiges daraus lernen.
«Moskau vier» laute in Russland ein Synonym für die Dummheit der Mächtigen, erzählt der Putin-Kritiker Alexei Nawalny in diesem Dokumentarfilm. Der Mail-Account eines Geheimdienstmitarbeiters sei gehackt, das Passwort «Moskau eins» entschlüsselt worden. Also habe dieser Mann sein Passwort in «Moskau zwei» geändert, was ebenfalls gehackt wurde, woraufhin der Mann das Passwort «Moskau drei» und schliesslich «Moskau vier» erfand ... Nawalny lacht sich kaputt.
Die Dummheit des Menschen, man weiss es, kann gar nicht überschätzt werden. Seine potenzielle Bösartigkeit ebenfalls nicht, wie auch der brutale Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine demonstriert. Die Skrupellosigkeit, mit der der Kreml gegen tatsächliche oder vermeintliche Staatsfeinde vorgeht, war lange vor dem Überfall auf die Ukraine bekannt, das macht auch diese Doku von Daniel Roher deutlich, die jetzt in den Schweizer Kinos läuft. «Nawalny» ist ein Zeugnis der Brutalität und der gelegentlich haarsträubenden Dummheit des russischen Geheimdienstes und seiner Führung – und spannend wie ein Politthriller.
Eine Notlandung wegen Nervengift
Am 20. August 2020 wurde Nawalny auf einem Flug von Sibirien nach Moskau vergiftet. Im Film sind Handyaufnahmen eines Passagiers zu sehen. Wie die Stewardessen zur Toilette laufen, an der Tür rütteln, kaum mehr menschlich klingende Laute wie von einem Sterbenden sind zu hören.
Das Flugzeug macht eine Notlandung, Nawalny überlebt und wird schliesslich nach Deutschland in die Berliner Charité verlegt. Hier wird eine Vergiftung mit Nowitschok festgestellt, dem Nervengift, mit dem schon der russische Doppelagent Sergei Skripal und seine Tochter Julia getötet werden sollten. «Vergiftet? Come on ...» Nawalny kann gar nicht glauben, dass so umständlich und wenig diskret versucht wurde, ihn zu töten.
«Im Fall, dass ich getötet werde, kannst du immer noch einen langweiligen Erinnerungsfilm machen.»
Der kanadische Filmemacher Daniel Roher trifft Nawalny in Deutschland, wo dieser im Schwarzwald untergetaucht ist. Er begleitet ihn bis zu seiner Verhaftung in Moskau 2021 und zeichnet die Nachforschungen auf, die Nawalny mithilfe des investigativen Recherchenetzwerks Bellingcat durchführt, um die Schuldigen des Giftanschlags zu finden.
Roher und sein Film werden dabei fast zwangsläufig Teil von Nawalnys Medienkampagne. Dass es vor allem der charismatische Oppositionelle selbst ist, der seine Geschichte erzählt, macht der Filmemacher schon mit der ersten Szene deutlich: «Angenommen, Sie sterben – was wollen Sie den Menschen in Russland mitteilen?», fragt er Nawalny in einem Interview, das er in einer schummrigen, menschenleeren Bar führt, als wäre Nawalny ein Gentleman-Agent wie James Bond. Der Interviewte lenkt die Frage gleich in die von ihm gewünschte Richtung: «Daniel, ist das dein Ernst? Lass uns einen anderen Film machen, einen Thriller. Und im Fall, dass ich getötet werde, kannst du immer noch einen langweiligen Erinnerungsfilm machen.»
Langweilig ist «Nawalny» wirklich nicht geworden, der Film, an dem CNN und HBO Max beteiligt sind, ist unterhaltsam, manchmal komisch. Ein Höhepunkt ist die Sequenz, in der Nawalny unter dem Vorwand, ein Geheimdienstmitarbeiter zu sein, der eine interne Untersuchung zum Giftanschlag durchführt, seine mutmasslichen Mörder anruft: «Hier ist Maxim Sergejewitsch Ustinow, Mitarbeiter von Nikolai Platonowitsch Patruschew. Ich habe Ihre Nummer von Wladimir Michailowitsch Bogdanow erhalten. Ich entschuldige mich für die frühe Stunde, aber ich brauche dringend zehn Minuten Ihrer Zeit.»
Das folgende Gespräch wurde weltbekannt, Nawalny veröffentlichte den Mitschnitt auf Youtube, es wurde millionenfach geklickt. Trotzdem folgt man ungläubig und mit Spannung dem Anruf, bei dem sich ein Chemiker namens Konstantin Kudrjawzew um Kopf und Kragen redet, indem er das Verbrechen, an dem er beteiligt war, minutiös nacherzählt. Moskau vier! Nawalnys Team ist anzusehen, wie es die Dämlichkeit des Angerufenen kaum fassen kann.
Der «Held» fällt selten aus der Rolle
«Nawalny» zeichnet das Porträt eines smarten Selbstdarstellers, dessen «grosses Genie», wie Roher sagt, sich im Umgang mit den Medien zeige. Selten sind die Momente im Film, in denen der «Held» aus der Rolle fällt. Wenn etwa Nawalny sich genervt zeigt von den immer gleichen Fragen der Journalisten.
Neue Erkenntnisse oder einen unverstellten Blick auf den Menschen Nawalny darf man aber nicht erwarten. Der Film ist dennoch ein Glücksfall. Weil er die Strategien politischer Showmen zeigt, wie auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski ursprünglich einer war, weil er einen Einblick gibt in den Informationskrieg, der auf Youtube und Twitter, Facebook und Tiktok, vom russischen Staatsfernsehen und Geheimdiensten geführt wird.
Eine mindestens ebenso interessante Figur wie Nawalny ist denn auch Christo Grozev, der Rechercheur von Bellingcat, der die Schuldigen des Anschlags überführte. «Menschlichen Quellen vertrauen wir nicht, weil Menschen nicht vertrauenswürdig sind», erklärt er dem Regisseur. Er vertraue Daten. Viel Geld gebe er dafür auf dem Daten-Schwarzmarkt aus.
Lange Gefängnisstrafe für Nawalny
Nawalny selbst wird die Vorführungen «seines» Films im Kino übrigens nicht so bald erleben. Seit 2021 sitzt er eine zweieinhalbjährige Gefängnisstrafe in Russland ab. Im März war er zu neun weiteren Jahren verurteilt worden, weil er Spenden an seine politischen Organisationen veruntreut und eine Richterin beleidigt haben soll. Der Umgang Russlands mit seinem berühmtesten Kritiker wirkt exemplarisch für ein Land, in dem die Meinungsfreiheit de facto abgeschafft ist.
Warum Nawalny dennoch zurückgekehrt ist? Am Schluss des Films formuliert er eine trotzige Botschaft an die Menschen in seinem Land: keine Angst zu haben, nicht aufzugeben, damit das Böse nicht triumphiert.
«Nawalny» läuft in den Schweizer Kinos
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