Vereinbarkeit von Familie und BerufDie Topmanagerin sagt: «Work-Life-Balance ist eine Lüge»
Thasunda Brown Duckett führt einen Milliardenkonzern. Für ihre Kinder wende sie 30 Prozent ihrer Zeit auf, sagt sie. Fachleute geben Tipps für Gleichgewicht im Alltag.
- US-Managerin Thasunda Brown Duckett betont, Work-Life-Balance sei eine Illusion.
- Expertinnen raten, das Gleichgewicht der Lebensbereiche regelmässig zu hinterfragen.
- Ständige Schuldgefühle lassen sich durch eine langfristige Perspektive vermeiden.
- Flexibilität im Beruf wird zunehmend gefordert, bedeutet aber auch mehr Verantwortung.
Thasunda Brown Duckett ist CEO von TIAA, einem US-Finanzkonzern, der 45 Milliarden Jahresumsatz macht. Mindestens ein Vollzeitjob, oder?
Brown Duckett ist auch Mutter von vier Kindern. Und damit kennt die Managerin die Erwartungshaltung, neben der Arbeit auch für ihre Familie genug Zeit aufzuwenden. Ein Druck, dem sie sich schon seit einer Weile entzieht.
«Work-Life-Balance ist eine Lüge», sagte sie kürzlich in einem Interview mit «Linkedin News». Ihre Kinder würden «nur 30 Prozent» ihrer Zeit kriegen. «Ich habe versucht, alles unter einen Hut zu bringen. Die Rechnung geht nicht auf.» Die Erkenntnis habe sie vor einiger Zeit gehabt, als es bei der Arbeit wieder einmal später wurde als geplant und sie ihrem Mann am Telefon unter Tränen gestand, dass sie die Kinder heute wieder nicht sehen würde. Ihr Mann habe ihr gesagt, dass sie den Job ja kündigen könne.
«Der Begriff Work-Life-Balance sollte nicht mehr verwendet werden»
Doch sie beschliesst für sich, nicht «alles jederzeit» erfüllen zu können. So erzählt es Brown Duckett. Sie arbeitet weiterhin als CEO und kann auf die Unterstützung ihres Ehemannes zählen, der Hausmann ist, wie die Managerin sagt.
Brown Ducketts Aussagen wurden im englischsprachigen Raum vielfach zitiert. Der «Guardian» etwa liess in einem Artikel weitere Führungskräfte zu Wort kommen, die sich gegen die hohen Erwartungen wehren, die insbesondere an Mütter gerichtet würden. Man müsse die «rosarote Brille ablegen», heisst es da, jungen Frauen dürfe nicht weiter vorgegaukelt werden, dass sie «alles haben könnten». Nur wer die Idee einer Work-Life-Balance aufgebe, könne den Zustand «konstanter Schuldgefühle» durchbrechen.
«Der Begriff Work-Life-Balance ist überholt und sollte nicht mehr verwendet werden», sagt Rita Buchli, Expertin der Schweizerischen Gesellschaft für Arbeits- und Organisationspsychologie. Sie berät Firmen bei der Gestaltung eines gesunden Arbeitsumfeldes. Eine Grenze zwischen «Arbeit» und «Leben» lasse sich nicht scharf ziehen. «Diese Trennung hat sich mit der Industrialisierung etabliert und ist damit eine eher neue Erscheinung in der Menschheitsgeschichte», sagt Buchli.
Heute fliessen Arbeit, Familienarbeit und Freizeit wieder mehr ineinander hinein. Arbeit gehöre zum Leben, sagt die Psychologin, und könne zu Zufriedenheit, Gesundheit und Selbstwert beitragen.
Wie lässt sich da Balance im Alltag erreichen?
Gerade Eltern setzen sich unter grossen Druck
Buchli rät, regelmässig zu prüfen, «ob das Gesamtpaket stimmt». Sie mache das jeweils Ende Jahr, aber auch eine höhere Kadenz sei möglich. «Das Ziel ist, dass eine schwarze Null steht. Dass das aktuelle Lebensmodell also mindestens gleich viel Energie gibt, wie es mich kostet. Wenn dem nicht so ist, muss ich etwas verändern. Und zwar ohne Tabus.» Das könne auch bedeuten, den Job zu wechseln, wenn es nicht anders gehe.
«Leider verstehen wir es sehr gut, uns selber zu täuschen – und uns vorzumachen ‹so schlimm ist es nicht›, ‹nächste Woche ist es dann wieder besser›», sagt Anita Glenck vom Institut für Angewandte Psychologie der ZHAW. Für Personen, die sich als sehr belastbar erleben, sei es oft schwierig, sich einzugestehen, dass die Balance verloren gegangen sei. Es könne hilfreich sein, jemanden ins Boot zu holen, eine Art Sparringspartner, und sich beispielsweise jede Woche kurz auszutauschen.
Gerade Eltern setzen sich unter grossen Druck. Sie wollen im Job und daheim performen. Aber: «Es können nicht alle Herdplatten auf Vollgas laufen», sagt Rita Buchli. Man müsse sich fragen: Bei welcher kann ich runterschalten, welche muss gerade voll aufgedreht sein, und welche kann auch in ein paar Jahren wieder die volle Wärme entfalten?
Ein Stressfaktor sind elterliche Schuldgefühle. Es gibt in der Schweiz dabei Unterschiede zwischen Stadt und Land, auf beiden Seiten gibt es gemäss Psychologin Buchli Stigmata. «Auf dem Land fällt man auf, wenn man das Kind fremdbetreuen lässt. In der Stadt, wenn man zu wenig arbeitet und sich zum Beispiel entscheidet, für die Kinder daheimzubleiben.»
Die Schwierigkeit für viele, die in einer Stressspirale stecken, ist, überhaupt Möglichkeiten zu sehen. «Man denkt oft mit Scheuklappen, wenn man in einer Situation gefangen ist. Da denkt man nicht mehr in Varianten», sagt Rita Buchli. Beratungsstellen würden helfen. Achten sollte man auf die typischen Anzeichen von Erschöpfung: Man schläft schlecht, ist dünnhäutig und gereizt, kommt nicht aus dem Bett.
Flexibilität im Job bringt noch mehr Verantwortung
Weil Lebensbereiche mehr ineinandergreifen, stellt sich ein hohes Tempo ein. Die To-dos im Alltag werden pausenlos. Eine konkrete Gegenmassnahme: Buchli trägt sich in ihrem Kalender täglich eine Pause ein, etwas, das sie ohne den fixen Termin so nicht umsetzen würde. Wichtig sei auch, «unsichtbare Arbeit sichtbar zu machen», sagt Anita Glenck. Stichwort: Mental Load. «Es ist enorm hilfreich, all die unsichtbaren Denkaufgaben einmal aufzuschreiben und mit Partnerin oder Partner gezielt aufzuteilen.»
Buchli begrüsst es, dass jüngere Angestellte in der Arbeitswelt mehr Flexibilität einforderten. «Für die Generation Z gibt es nicht den einen Lebensplan. Die Arbeitsbedingungen müssen die Individualität unterstützen.» Hier sieht Anita Glenck aber auch eine Gefahr: Wenn Flexibilität bedeute, dass man auch abends arbeiten könne, wenn zum Beispiel die Kinder im Bett sind, sei das für die Vereinbarkeit hilfreich, müsse aber nicht zwingend zu mehr Balance führen. «Viel Flexibilität zieht uns noch mehr in Verantwortung, damit wir das Gleichgewicht halten können.»
CEO Thasunda Brown Duckett hat ihre Erkenntnis schon 2021 in einem Post auf der Businessplattform Linkedin aufgeschrieben. «Work-Life-Balance ist nicht möglich», heisst es dort.
Man solle eine langfristige Perspektive einnehmen. Vielleicht kann man zu einer gewissen Zeit einem Bereich nur beschränkt Aufmerksamkeit schenken – die Herdplattentheorie. Auch wenn sie aktuell 30 Prozent für ihre Kinder einplane, wisse sie, dass sie letztlich eine gute Mutter sei. Sie tue das, was im abgesteckten Bereich möglich sei.
Sich einzugestehen, dass nicht alles gleichzeitig gehe, sei der erste Schritt zu weniger Stress.
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