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Wohnen in der Stadt
«Bauen ist die einzige Medizin, um der Wohnungsnot zu begegnen»

Er sieht die Zukunft der Menschheit in den Städten – Ökonom Edward Glaeser von der Universität Harvard bei einem Gastreferat an der Universität Bern.
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Er werde sich kurzfassen müssen, sagte Edward Glaeser zu Beginn seines Referates über «Städte und Infrastruktur», das er anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an der Universität Bern hielt.

60 Minuten später gelang dem Harvard-Professor die zeitliche Punktlandung. Dazwischen zündete der Autor von Büchern wie «Triumph of the City» und «Survival of the City» ein rhetorisches Feuerwerk – vom US-Städtebau in der Nachkriegszeit bis zu seinen neuesten Forschungen über die volkswirtschaftlichen Kosten löcheriger Strassen anhand der Handydaten von Uber-Fahrerinnen.

Glaeser ist geprägt von der wirtschaftsliberalen Schule der Universität Chicago, wo er in den 80er-Jahren studiert hatte. In den letzten Jahren betont er aber mehr und mehr die Rolle des Staates bei der Armutsbekämpfung und beim Kampf gegen die Segregation in den US-Städten.

Herr Glaeser, Sie forschen zum Wohnungsmarkt in US-Grossstädten. Was ist der Hauptunterschied zwischen US-Städten und einer Stadt wie Bern?

US-Grossstädte bieten eine Menge Annehmlichkeiten, aber das Leben in einer Grossstadt beinhaltet auch grosse Herausforderungen. Die Wege sind lang und Wohnraum ist sehr teuer. Es gibt eine grosse kulturelle Diversität und eine geringe soziale Kontrolle. Aber es gibt auch eine vergleichsweise hohe Kriminalität.

Sie leben in einem Vorort von Boston. Warum lebt einer der berühmtesten Stadtökonomen nicht in einer Metropole?

Einer der berühmtesten Stadtökonomen hat eine Ehefrau. Die Dinge, die mich als jungen Menschen am Leben in der Stadt angezogen haben, standen als Vater von drei Kindern nicht mehr so im Vordergrund.

Heute dürften die Kinder aber erwachsen sein?

Der Jüngste ist 16 Jahre alt. Aber das Leben im Vorort hat auch meine Persönlichkeit verändert. Ich lernte es zu schätzen, dass ich in Fussdistanz Wälder zum Spazieren finde.

Wie gelangen Sie zu Ihrem Arbeitsplatz an der Universität?

Ich fahre mit dem E-Auto in die Stadt.

«In der 15-Minuten-Stadt bleiben die ärmeren Leute, wo sie sind.»

Städte in der Schweiz versuchen, die Autos aus den Zentren fernzuhalten. Die lokalen Regierungen streben 15-Minuten-Städte an, wo alles Nötige in Fussdistanz erreichbar ist. Was halten Sie davon?

Ich liebe es, nicht «nur» durch Wälder, sondern auch durch Städte zu flanieren. In historischen Zentren wie zum Beispiel Paris sind Fussgängerzonen sinnvoll. Aber die Frage ist, wie viele Fussgängerzonen es gibt und ob die Stadt für ärmere Leute aus den Vororten noch erreichbar bleibt. Dem Konzept der 15-Minuten-Stadt kann ich nicht viel abgewinnen.

Warum?

In den USA ist die Entmischung der Städte in reichere und ärmere Quartiere eine grosse Fehlentwicklung. Um eine Stadt zu verbinden, sollte man sie nicht in kleine Nachbarschaften aufteilen. Die Leute sollten sich nicht nur in ihrer nächsten Umgebung bewegen, sondern in der ganzen Stadt. In einer Untersuchung anhand der GPS-Daten von rund 40 Millionen Smartphone-Usern in den 418 dichtesten urbanen Gegenden der USA habe ich mit Kolleginnen und Kollegen herausgefunden, dass die 15-Minuten-Stadt das Leben von reicheren Menschen kaum tangiert. Sie nutzen die Vorteile der Stadt besser aus als ärmere Leute. Sie gehen öfter in Parks, Museen und Kinos – auch ausserhalb einer 15-Minuten-Fussdistanz. Die 15-Minuten-Stadt tangiert vor allem das Leben der ärmeren Leute. Sie bleiben, wo sie sind, gehen weniger aus und vernetzen sich weniger mit anderen Leuten.

Die Wohnungsnot in den Städten nimmt zu, die Kauf- und Mietpreise steigen. Sie sind gegen Regulationen des Wohnungsmarktes. Soll man alles dem Markt überlassen?

Es kommt darauf an, was für Wohnungen man will. Wenn man billige Wohnungen für ärmere Schichten will, ist es Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen. Dabei geht es nicht darum, Neubauwohnungen für Ärmere zu bauen, sondern Häuser für reichere Leute. Sie ziehen dann aus ihren bisherigen Wohnungen aus, die frei werden für ärmere Menschen. Ziehen die reicheren Leute aus älteren Wohnungen aus, reduziert das auch den Gentrifizierungsdruck auf diese Quartiere. Wer in New York Neubauwohnungen für wohlhabendere Schichten am Rand der Stadt baut, reduziert den Gentrifizierungsdruck in Harlem.

Und wo wohnen die ganz Armen?

Für die Armen braucht es «housing vouchers». In New York zum Beispiel wird es so ermöglicht, dass arme Familien nicht mehr als 30 bis maximal 40 Prozent ihres Einkommens fürs Wohnen ausgeben müssen.

In der Schweiz darf man nicht mehr im Grünen bauen, wir müssen Städte verdichten, um die Zersiedelung aufzuhalten. Soll man Hochhäuser bauen, wie Sie das propagieren?

Ich bin kein Fan von Hochhäusern an sich. Ich bin ein Fan der Freiheit für private Investoren, Hochhäuser zu bauen. Das Bauverbot im Grünen gibt es auch in den USA in Form von Green Belts rund um die Städte herum. In London zum Beispiel gibt es im sogenannten Green Belt aber viele alte Industrieareale. Diese Zonen könnte man gut verdichten.

«Mietzinskontrollen sind die effektivste Methode, Städte zu zerstören.»

Das Berner Stadtparlament hat die Einführung einer Mietkontrolle beschlossen, wie es sie etwa bereits in Basel gibt. Kann man so die Preise dämpfen?

In den USA hat die Mietzinskontrolle einen sehr schlechten Ruf. Der schwedische Ökonom Assar Lindbeck sagte, dass die Einführung von Mietzinskontrollen in vielen Fällen die effektivste Methode sei, um Städte zu zerstören – abgesehen von Luftangriffen. Mit Mietzinskontrollen fehlen den Eigentümern auf die Dauer die finanziellen Mittel, um ihre Häuser zu unterhalten und neue Häuser zu bauen. Zudem bleiben die Leute über längere Zeit in denselben Häusern und werden dort oft auch alt.

Ein weiteres Mittel gegen hohe Wohnpreise ist die Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus, wo Kosten- statt Marktpreise bezahlt werden. Sind das gute Strategien, um die Wohnungsnot zu bekämpfen?

Gemeinnütziger Wohnungsbau ist stark von politischen Vorgaben abhängig. Ich zweifle, ob mit gemeinnützigem Wohnungsbau 15’000 Häuser aufs Mal gebaut werden können, wie das den Immobilienentwicklern Levitt & Sons dank standardisierten Bauprozessen und Massenproduktion nach dem Zweiten Weltkrieg auf Long Island gelang.

Wollen die Leute wirklich in solchen Grossüberbauungen leben?

Es hängt davon ab, was die Alternative ist. Niemand baut derart grosse Siedlungen, wenn es keine Nachfrage dafür gäbe. In den USA sind es interessanterweise vor allem die republikanisch regierten Staaten, in denen es ausreichend bezahlbaren Wohnraum gibt – so zum Beispiel in der texanischen Metropole Houston, deren Wohnungsmarkt wenig reguliert ist. Was bewirken Regulierungen? Sie beschützen in der Regel reiche Insider vor dem Eindringen ärmerer Outsider.

Welche Auswirkungen hat der Denkmalschutz auf die Wohnungspreise?

Bauzonenvorschriften und denkmalpflegerische Vorgaben machen den Wohnungsbau teurer. Natürlich müssen historische Altstädte in der Schweiz geschützt werden. Aber es braucht Gebiete, in denen die Dichte beachtlich erhöht werden kann, um der steigenden Nachfrage zu begegnen. Man kann und soll die historische Bausubstanz von Städten schützen. Aber man sollte es den Menschen trotzdem ermöglichen, eine Zukunft aufzubauen.

Das einzige Mittel gegen die Wohnungsnot ist demnach Bauen?

Es gibt keine andere Medizin gegen die wachsende Nachfrage.

Stadt «geschieht» in den Aussenräumen. Wie kann die Infrastruktur erhalten werden, ohne die Verschuldung enorm zu erhöhen?

Zunächst einmal ist es bemerkenswert, dass die Bevölkerung in der Schweiz wächst. In den umliegenden Ländern ist das Gegenteil der Fall. Dies ist ein Zeichen, dass es hier gut läuft. Die Menschen wollen Teil der hiesigen Gesellschaft und Wirtschaft sein. Für dieses Privileg kann man sie auch vernünftig besteuern. Es braucht nicht zwingend ein Defizit, um die Kosten der Immigration zu finanzieren. Beim Hauptharst der Immigration in der Schweiz handelt es sich ja nicht um arme Flüchtlinge.

Ein weiteres Problem wachsender Städte sind die Sicherheitskosten. Braucht es mehr Polizei oder mehr Integration?

Es ist schrecklich, dass es in den USA keine guten öffentlichen Schulen für ärmere Menschen gibt. Bildung muss auch für ärmere Leute zugänglich gemacht werden. Das ist Umverteilung, die sich ökonomisch auszahlt. Genauso wie die Unterstützung von Flüchtlingen. Sicherheit und gute Schulen machen Städte wertvoll. Es gibt da keinen Widerspruch. Es braucht beides.

War die Wiederwahl von Donald Trump ein Sieg des Landes über die Stadt?

Die Wählerschaft des angehenden US-Präsidenten stammt in der Tat eher vom Land. Es gibt die Tendenz urbaner Menschen, auf weniger urbane Menschen runterzuschauen. Das ist nicht gut. Menschen sind Menschen. Es gibt keine glaubwürdigen Kriterien dafür, das Leben in der Stadt höher zu werten als das Leben auf dem Land.