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25 Jahre Unglück am Saxetbach
«Und dann stieg das Wasser plötzlich an»

Rescuers search the Saxetbach in Wilderswil for the missing victims of Tuesday's canyoning accident, Wednesday, July 28, 1999. At the same location at least 20 young tourists lost their lives on Tuesday, July 27, 1999 while they where engaged in a canyoning trip. (KEYSTONE/Alessandro della Valle)
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Es gibt Ereignisse, die brennen sich so stark ins Gedächtnis der Öffentlichkeit, dass eine geografische Bezeichnung plötzlich mehr ist als nur ein Ortsname. Sie steht nun für ein genaues Datum und eine Tragödie. Auf globaler Ebene trifft dies beispielsweise auf Tschernobyl mit der Nuklearkatastrophe vom 26. April 1986 zu. Oder auf den Platz des Himmlischen Friedens, wo am 3. Juni 1989 die Panzer auffuhren.

Im Berner Oberland trifft dies auf den Saxetbach zu. Am 27. Juli 1999 erfuhr der knapp 10 Kilometer lange Wildbach weltweite Bekanntheit. Und wohl jede Bewohnerin, jeder Bewohner der Region ab einem gewissen Alter erinnert sich, wo sie oder er war, als klar wurde, was sich im sonst so beschaulichen Saxettal an diesem Tag abgespielt hatte: 21 junge Menschen aus Australien, Neuseeland, England, Südafrika und der Schweiz hatten in den tobenden Wassermassen den Tod gefunden.

Als sich der Himmel verdunkelte

Sie waren auf einer Canyoning-Tour. Eine der Adventure-Sportarten, die zu der Zeit gerade besonders angesagt waren. Insgesamt waren vier Gruppen mit insgesamt 45 Personen im Wildbach unterwegs. Den verantwortlichen Guides war entgangen, dass sich im Einzugsgebiet ein heftiges Gewitter entladen hatte. Oder sie erkannten dessen Ausmass nicht und konnten die Folgen nicht abschätzen.

«Ich schaute umher, der Himmel hatte sich nun deutlich verdunkelt», schreibt Tiffany Johnson, eine der Überlebenden, in ihrem Buch «Gefrorener Sonnenschein». «Die anderen Mitreisenden schienen sich darüber keine Gedanken zu machen; nur die Tourleiter steckten etwas abseits von uns die Köpfe zusammen und schienen ernst miteinander zu diskutieren.»

25 Jahre Canyoning Unglück Saxetbach 1999: Blick auf as untere Ende des rund 10 Kilometer langen Saxetbaches, einem Zufluss der Lütschine, kurz vor Wilderswil.

«Wir sind nicht sicher, ob wir gehen sollen oder nicht», hat einer der Guides gemäss Tiffany Johnson gesagt. «Aber alles sollte in Ordnung sein. Da es in der Schlucht überall Ausstiegsmöglichkeiten gibt, können wir bei Wetterverschlechterung jederzeit abbrechen.»

Und dann stieg das Wasser plötzlich an – und mit der Flutwelle kamen auch Steine, Geröll und Holz. «Ich war von einer wilden, zornigen und sintflutartigen Wassermasse verschlungen worden, die aussah wie ein riesiger, schäumender Schokoladen-Milkshake, der sich die Schlucht des Saxetbachs hinab ergoss – im Berner Oberland – in der Schweiz», beschreibt Tiffany Johnson die Minuten, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen in diesem Strudel.

«Ich schaute nach rechts, um mich zu orientieren, und sah die leblosen Körper meiner Freunde am mir vorbeitreiben, mit dem Kopf nach unten, zwischen Bergen von Zweigen, Ästen, Steinen, Holzstämmen und Felsbrocken», heisst es weiter. «Ein heftiges Gewitter in den majestätischen Berner Alpen hatte diese Flutwelle verursacht und uns damit in die Hölle geschickt.»

Eine Person wurde nicht gefunden

Rund 60 Angehörige der Seepolizei, der Kantonspolizei, der Wehrdienste von Interlaken und Bönigen sowie Spezialisten waren bei der Rettung und Bergung im Einsatz, wie die Verantwortlichen an einer noch gleichentags einberufenen Medienkonferenz im Schulhaus Bönigen mitteilten.

A member of the rescue team with a search dog is searching for the two  persons still missing Thursday, July 29, 1999, in the stream 'Saxetenbach' near Interlaken. At least 19 people seeking the thrills of an Alpine river adventure near Interlaken were killed and two are missing after a storm turned the mountain stream 'Saxetenbach' into a deadly wall of water. (KEYSTONE/Alessandro della Valle)

Dieser Abend hat sich auch in das Gedächtnis von Alex Karlen eingebrannt. Er war damals Redaktor beim «Oberländischen Volksblatt», und kurz nach 18 Uhr stand er am Ufer des Brienzersees auf dem Delta der Lütschine, in die bei Wilderswil der Saxetbach mündet. Ein Kollege habe ihn informiert, dass Leichen in der Lütschine trieben, erzählte Karlen Jahre später der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA). «Erst einige Polizisten waren vor Ort. In einem Boot vor dem Lütschinendelta waren Rettungskräfte daran, die Toten zu bergen.» Es habe eine sehr bedrückte Stimmung geherrscht. «Niemand wusste, wie viele Menschen noch oben im Saxetbach waren.»

Die Bergungsarbeiten dauerten noch Tage an. Am 30. Juli wurde das 20. Opfer geborgen. Das 21. – eine junge Australierin, die mit ihrem Mann auf Hochzeitsreise war – konnte bis heute nicht gefunden werden. Sie liegt wohl auf dem Grund des Brienzersees.

21 Kerzen für 21 junge Menschen

Nach dem Unglück fanden verschiedene Gedenkgottesdienste statt. Tiffany Johnson erinnert sich: «Die Sonne schien auf uns herab, als wir an diesem Nachmittag auf kreisförmig angeordneten Holzstamm-Hockern sassen. Die Berge umschlossen uns. Der Wasserfall brach sich an Felsen und Steinen. Ich konnte sie fast hören – diese Urgewalt des Wassers.» Der Gottesdienst sei schön und sehr angemessen gewesen – «aber alles, was ich sehen konnte, waren meine dahintreibenden Freunde».

Mit einem Lichterzug gedachten Angehörige, Überlebende und Bevölkerung des Opfern des Saxetbach-Unglücks am 27. Juli 1999.

Auch im ordentlichen Gottesdienst am Sonntag darauf in der Kirche Bönigen war die Tragödie das alles bestimmende Thema. «Die 21 Kerzen erinnern uns an das schwere Unglück, das die 21 jungen Menschen getroffen hat. Wir können heute nicht feiern, ohne an sie und an ihre Angehörigen und an alle, denen sie im Saxetbach anvertraut waren, zu denken», erklärte Pfarrer Samuel Bacher.

Und Bacher ahnte auch, was nun kommen würde, und rief dazu auf, auch für die zu beten, die Verantwortung trugen und noch tragen würden. «Wir bitten dich für Richter und Ärzte, für Väter und Mütter. Auch für die Veranstalter, ihre Angestellten und Angehörigen bitten wir dich und für alle, die im Rettungseinsatz waren und die das Schreckliche hautnah erlebt haben.»

Führungsetage in der Verantwortung

Schon kurz nach dem Unglück rückte die Schuldfrage ins Zentrum. Hätten die Guides das nahende Gewitter erkennen müssen? Während die einen von einem Jahrhundertereignis sprachen, das so nicht vorhersehbar war, meinten andere, wer den Saxetbach und das lokale Wetter kenne, hätte mit der Flut rechnen müssen. Waren die Guides genügend ausgebildet? Auch ein Verbot von Canyoning stand zur Debatte.

Die juristische Auflösung folgte zweieinhalb Jahre später an einem Gerichtsprozess, der aufgrund der öffentlichen Aufmerksamkeit im Theatersaal des Kursaals Interlaken stattfand. Und dort hielt Richter Thomas Zbinden klar fest: «Die Sicherheit ist und bleibt Chefsache.» Die Verwaltungsräte, der General Manager und sein Stellvertreter sowie der Lead-Guide wurden zu bedingten Strafen verurteilt.

Die Fehler, die zum Tod der 21 Menschen geführt hätten, seien vorab «im ungenügenden Sicherheitskonzept und in der Ausbildung» zu finden. Die Verurteilten hätten «unbewusst fahrlässig gehandelt». «Sie haben das nicht gewollt.» Freigesprochen wurden die beiden Guides, die das Unglück überlebt haben. Ihnen könne man nichts vorwerfen, erklärte Zbinden. Sie hätten so gehandelt wie von den Chefs vermittelt.

«Wichtig war, dass Schuldsprüche gefällt wurden», sagte Bruce Tour, der Vater eines der Opfer, nach der Urteilsverkündung gegenüber der «Berner Zeitung». Auch Rachel O’Brian, eine der Überlebenden, zeigte sich befriedigt über die Urteile.

Auch auf politischer Ebene folgte eine Aufarbeitung. Diese gipfelte in einem Rahmengesetz für Risikosportarten, das Jahre später – gegen den Willen des Bundesrates – verabschiedet wurde. Schon im Jahr 2000 wurde die Swiss Outdoor Association (SOA) gegründet. Eine Dachorganisation, die strengere Richtlinien erarbeitete und Standards, Ausbildungskonzepte und Prüfungen einführte.

In Ruhe gedenken

Im Gegensatz zu vor fünf Jahren ist heuer keine Gedenkfeier geplant. 2019 gedachten unter anderem Adolf Ogi und die australische Botschafterin Lynette Wood der Opfer, auch Tiffany Johnson war dabei.

20 Jahrestag des Canyonunglücks im Saxetbach, Gedenkfeier vom 27. Juli 2019. 90 Menschen fanden sich bei der Gedenkstätte ein.

Man wolle in absoluter Ruhe dieser Tragödie von vor 25 Jahren gedenken, erklärt Rolf Herren, Gemeindepräsident von Wilderswil. «Ich war dazumal im Tessin in den Ferien», erinnert er sich. Er sei dann sofort zurück nach Wilderswil gereist, um die Betroffenen in diesen schweren Stunden zu unterstützen. «Es ist ein tragisches Ereignis von ungeahnter Tragweite und gehört leider zur Geschichte unserer Gemeinde.»

«Das Unglück geschah auf Wilderswiler Boden, und nur der Name des Baches weist auf unsere Gemeinde hin», sagt Robert Seematter, Gemeindepräsident von Saxeten. Dies heisse jedoch nicht, dass das Unglück keine Spuren hinterlassen habe. «Ich war damals Feuerwehrkommandant von Saxeten, und wir haben Wilderswil tatkräftig unter die Arme gegriffen und nachbarschaftliche Hilfe geleistet», erzählt er. «Die Erinnerungen an diesen Einsatz bleiben in unserem Gedächtnis, ein Leben lang.»

Das Unternehmen, das die verhängnisvolle Tour organisiert hatte, ging schon vor dem Prozess in Konkurs. Die Branche selbst nahm aber keinen nachhaltigen Schaden. Schon wenige Monate nach dem Unglück boomte der Adventure-Sport im Oberland wieder. Und tut es bis heute.

Ein Ort zum Innehalten

Ein Restrisiko bleibt aber. Daran erinnert auch die Gedenkstätte am Saxetbach. Mit einem Stein, der die Namen der 21 jungen Menschen trägt, die am 27. Juli 1999 dort das Abenteuer gesucht und den Tod gefunden haben.

25 Jahre Canyoning Unglück Saxetbach 1999: Hohes Bild mit Gedenkstein - Frontkandidat.

Der Unterhalt der Gedenkstätte auf der sogenannten Chammriwiese wird aus einem Fonds bestritten. Zweimal kam es hier 2013 zu Sachbeschädigungen durch Vandalen, die nicht ermittelt werden konnten. An einer geschützten Holzwand können immer wieder neue Gedanken und Nachrichten angebracht werden. Daneben stehen 21 Pfosten mit je einem Stein aus dem Saxetbach. Die Anlage ist mit Blick aufs Lütschinendelta und auf den Brienzersee ausgerichtet, wo das letzte Opfer, das nie geborgen werden konnte, vermutlich liegt.

Verwendete Quellen: «Gefrorener Sonnenschein» von Tiffany Johnson, «Oberländisches Volksblatt», «Berner Oberländer», «Berner Zeitung», Keystone-SDA, «Neue Zürcher Zeitung».

25 Jahre Canyoning Unglück Saxetbach 1999: Memorialpark mit Chammriwiese im Vordergrund und den starken Pfosten in unterschiedlichen Grössen mit je einem Stein aus dem Saxetbach - in Erinnerung und Verbundenheit.