Umsetzung der EnergiewendeDas Parlament streitet um die Zukunft der Biotope
Welchen Preis soll die Schweiz dafür zahlen, um von der fossilen Energie wegzukommen? Die Diskussion geht nun in die entscheidende Phase.
Seit über zehn Jahren versuchen die Kraftwerke Zervreila, fünf Quellbäche im Val Lumnezia grösstenteils in Löchern verschwinden zu lassen: Das Wasser soll künftig durch einen abschüssigen Stollen im Berg mehrere Kilometer Richtung Süden schiessen und dann einen Beitrag leisten, den Zervreila-Stausee zu füllen.
Heute fliesst das Wasser stattdessen ins Tal, speist dort den Fluss Glenner und geht später weiter nördlich bei Ilanz im Vorderrhein auf. Zwischen den Gemeinden Surin und Lumbrein hat sich um den Glenner auf einer Fläche von 13 Hektaren eine urtümliche Auenlandschaft herausgebildet. In den unbebauten Gebieten, wo der Fluss regelmässig über die Ufer tritt, leben unter anderem seltene Wasserkäfer und Steinfliegen.
Bisher haben die Gerichte die Pläne des Energieunternehmens gestoppt, das im Besitz des Kantons Graubünden und verschiedener grosser Energieunternehmen wie Axpo und Alpiq ist. Doch der Nationalrat könnte am Montag einen grossen Beitrag dazu leisten, dass Wasser künftig einfacher zur Stromgewinnung abgezapft werden darf. Hinsichtlich des Gesetzes über die «Sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien» stimmt er über übrig gebliebene Differenzen ab, die sich im Pingpong mit dem Ständerat ergeben haben.
Der letzte Entscheid läge immer noch beim Gericht
Das komplizierte Gesetz, auch «Mantelerlass» genannt, ist die Umsetzung der Energiestrategie 2050. Diese hatte die Stimmbevölkerung 2017 angenommen. Eine der offenen Streitfragen ist, wie hoch der Landschafts- und Gewässerschutz beim Ausbau der erneuerbaren Energie zu gewichten ist.
Die Gesetzespassage, die für die Auen am Glenner so wichtig ist, dreht sich um den Biotopschutz: Grundsätzlich dürfen Energieprojekte keine Biotope «von nationaler Bedeutung» beeinträchtigen, wie die Auen am Glenner es offiziell sind. Doch hat der Ständerat im Juni entschieden, dass dies nicht gelten soll, wenn das Projekt oberhalb des Biotops gebaut wird. Dann würde nur noch das sogenannte Restwasser, also die gesetzlich vorgeschriebene Mindestmenge, dem bisherigen Lauf des Wassers folgen.
Eine Mehrheit der zuständigen Kommission empfahl dem Nationalrat, diesem Vorschlag am Montag zuzustimmen. Ein wichtiges Argument war neben der Versorgungssicherheit, dass der finale Entscheid zu jedem Projekt auch nach einer Gesetzesänderung bei lokalen Gerichten liegen würde.
«Die Vorlage enthält Bestimmungen, die für uns inakzeptabel sind.»
Grosse Umweltorganisationen wie der WWF oder Pro Natura haben diesen und andere Teile der Vorlage zwar bereits kritisiert. Ob sie bereit sind, das Gesetz deswegen mittels Referendum zu bekämpfen und eine Volksabstimmung zu erzwingen, haben sie bisher jedoch offengelassen.
Anzunehmen ist, dass sie einige nicht genehme Teile der Vorlage akzeptieren könnten, um das Gesamtpaket nicht zu gefährden. Das Gesetz wird zentrale Bereiche wie die Genehmigungsverfahren oder die Neugestaltung der Stromnetze regeln, aber auch Pflichten zum Solarausbau festschreiben und die Förderinstrumente ausweiten.
Im Vorfeld der Abstimmung am Montag haben kleinere Umweltorganisationen jedoch ihre mögliche Fundamentalopposition angedeutet: Aqua Viva, Mountain Wilderness und die Stiftung Landschaftsschutz schreiben in einem Brief an sämtliche Parlamentsmitglieder, ohne natürliche Wasserführung seien Fliessgewässer-Auen in ihrer Existenz bedroht.
«Die Opferung dieser Lebensräume ist zur Sicherung der Stromversorgung nicht nötig, hätte aber inakzeptable Auswirkungen auf den Erhalt der wertvollsten Lebensräume in der Schweiz», steht im Brief. In Graubünden zum Beispiel könnte die Entscheidung laut den Organisationen theoretisch Konsequenzen für 58 Flusslandschaften haben.
So weit wie im Val Lumnezia ist kein anderes Projekt fortgeschritten. Es würde jährlich 80 Gigawattstunden Strom liefern. Die jährliche Wasserkraftproduktion in der Schweiz betrug zuletzt 37'260 Gigawattstunden.
Kommt es zu einer unheiligen Allianz?
Die Umweltorganisationen verlangen weiter, die Restwasserbestimmungen auch abseits von Biotopen nicht stärker auszuhöhlen.
«Die Vorlage enthält Bestimmungen, die für uns inakzeptabel sind», heisst es im Brief. Eine konsequente Auslegung dieser Sätze würde bedeuten, dass die Organisationen das Referendum ergreifen würden, sollte das Parlament die kritisierten Bestimmungen beschliessen. Allerdings wollen das die Organisationen auf Anfrage so nicht bestätigen.
Im Raum steht gleichzeitig, dass auch die politische Rechte rund um den Hauseigentümerverband das Gesetz bekämpfen könnte. Dies würde wahrscheinlicher, wenn der Nationalrat anders als der Ständerat weiterhin auf allen neuen Gebäuden und bei erheblichen Umbaumassnahmen den Bau von Solaranlagen vorschreiben will.
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