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Flüchtlingsdrama von Kalabrien
Um 4 Uhr funkt das Schiff «Help», die Küstenwache informiert Fischer – Protokoll der Tragödie

Mahnmal der Tragödie: In Kalabrien hat das Meer Leichen angeschwemmt, auch viele Kinder waren dabei.  
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Konnte man sie nicht retten? Oder wollte man nicht? Das grosse Flüchtlingsdrama vor Kalabrien vom vergangenen Wochenende mit bisher 66 geborgenen Todesopfern zerreisst die italienische Öffentlichkeit und mit ihr die Politik. Selbst aus der Rechtsregierung erhebt sich Kritik am parteilosen Innenminister Matteo Piantedosi – und das nicht nur wegen dessen kontroversen Aussagen nach der Tragödie: Piantedosi hatte den ertrunkenen Menschen nachgerufen, sie seien selbst schuld, keine Verzweiflung der Welt rechtfertige eine solche Flucht. Die postfaschistischen Fratelli d’Italia, die Partei von Premier Giorgia Meloni, fordern den Minister, der der rechtspopulistischen Lega nahesteht, nun auf, er möge dem Parlament erklären, ob die Kommandokette für eine Rettungsaktion versagt habe, und wenn ja, warum.

Von der Dynamik der Ereignisse, die zum dramatischen Schiffbruch der «Summer Love» geführt haben, wie das Boot der Flüchtlinge hiess, ist bereits eine ganze Menge bekannt und belegt.

Mittwoch, 21. Februar, 7 Uhr

Auch von den Alliierten in der Regierung kommt Kritik: Italiens Innenminister Matteo Piantedosi ist parteilos, steht aber der Lega nah.

Rund 180 Menschen aus Afghanistan, dem Iran, Somalia und Pakistan steigen in Istanbul auf einen Lastwagen, unter ihnen viele Kinder und Frauen. Sie werden nach Izmir gebracht. In der Nacht legt ihr Schiff nach Europa ab, es heisst «Luxury 2». Für jeden Platz an Bord haben ihre Schlepper zwischen 4000 und 8000 Dollar verlangt. Nach wenigen Stunden stirbt der Motor der «Luxury 2» ab, die Schlepper ersetzen sie mit dem Fischkutter «Summer Love», einer Holzbarke. Am Donnerstag geht die Reise weiter, die Route nach Kalabrien ist gefährlich und lang.

Samstag, 25. Februar, 4.47 Uhr

Die See war rau – und wurde immer rauer: Feuerwehrleute in Steccato di Cutro suchen den Horizont nach Vermissten ab. 

Das italienische Zentrum für die Rettungskoordination im Mittelmeer in Rom gibt ein unspezifisches «Warning» aus, die «Summer Love» erscheint auf seinem Radar. Die See im Ionischen Meer ist schon rau, und sie soll in den Stunden darauf immer rauer werden, das zeigen die Prognosen.

Um 22.30 Uhr bemerkt ein Flugzeug von Frontex, der Europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache, die «Summer Love» etwa 40 Seemeilen vor der kalabrischen Küste. Frontex meldet dem International Coordination Centre, dass das Boot mit sechs Knoten unterwegs sei, regulär, an Deck befinde sich eine einzige Person. Sie liefert ausserdem eine thermische Karte, die ist sehr rot, ein Hinweis darauf, dass sich im Bauch der «Summer Love» viele Menschen befinden müssen.

Es ist allen klar, dass es sich um ein Flüchtlingsboot handelt. Die italienische Küstenwache entscheidet, dass sie die Angelegenheit nicht betreffe, dass sich in diesem Fall also anstatt einer Rettungs- eine Kontrolloperation anbiete. Und dafür ist die Guardia di Finanza zuständig, Italiens Steuer- und Zollpolizei. Warum so entschieden wurde und was damit womöglich Transportminister Matteo Salvini zu tun haben könnte, der die Oberaufsicht über die Küstenwache hat, das wird man vielleicht bei den Untersuchungen erfahren. Die Finanzpolizei besitzt zwar eine stattliche Flotte, doch Schiffe für wirklich schweren Seegang hat nur die Küstenwache. Die Guardia di Finanza darf auch nur bis 12 Seemeilen vor der Küste kreuzen, und so wartet sie ein paar Stunden mit ihrer Fahrt.

Sonntag, 25. Februar, 00.30 Uhr

In einer Sporthalle in Crotone liegen jetzt 66 Särge – auf einen davon legten Angehörige ein blaues Spielzeugauto.

Zwei Boote der Finanzpolizei legen ab, um sich der «Summer Love» zu nähern. Doch schon nach kurzer Zeit brechen sie die Fahrt wieder ab: Die Wellen sind viel zu hoch, die See ist zu bewegt für ihre Schiffe. Man könnte nun auch einen Helikopter oder ein Flugzeug einsetzen, um den Kutter zu finden, aber davon sieht man ab. Um 4 Uhr geht am Hafen des kalabrischen Vibo Valentia am Tyrrhenischen Meer ein Funkspruch ein, ein «Help» von der «Summer Love». Mehr nicht.

5 Uhr. In Steccato di Cutro, einem kleinen Badeort an der Ionischen Küste, machen sich zwei Männer auf, um zu fischen. Die örtliche Küstenwache bittet einen von ihnen, er möge doch Ausschau halten nach einem Boot, das sich der Küste nähere. Da schwemmt es schon die ersten Leichen an. Die «Summer Love» ist etwa 100 Meter vor dem Strand an einem Felsen zerschellt. Nun rückt die Küstenwache aus, mit zwei Booten, die stark genug sind, den hohen Wellen zu wehren. 80 Menschen überleben. Manche von ihnen haben es aus eigener Kraft an Land geschafft, andere werden aus den Wellen gerettet.

66 sind tot, aufgebahrt in einer Sporthalle im nahen Crotone, 14 von ihnen sind Kinder. Auf einen kleinen Sarg haben die Angehörigen ein blaues Spielzeugauto gelegt. Dutzende Passagiere der «Summer Love» gelten noch als «vermisst», was in diesem Fall natürlich wie ein Hohn klingt. Konnte man sie nicht retten? Oder wollte man nicht? Warum war der Regierung Kontrolle wichtiger als Rettung? Die Untersuchung hat erst begonnen.