Tierwelt in der UkraineZugvögel verändern Verhalten – so beeinflusst der Krieg die Tiere
Flamingos finden neue Brutreviere, Adler verschieben ihre Zugroute: Der Krieg in der Ukraine hat selbst für den Vogelzug Folgen.
Für Ivan Rusew sind die gefiederten Neuankömmlinge mehr als ein willkommener Farbtupfer in der Landschaft. Inmitten des Krieges mit Russland haben sich im Nationalpark von Tuzlowski Limani an der ukrainischen Schwarzmeerküste im vergangenen Jahr Hunderte Flamingos niedergelassen, um zum ersten Mal überhaupt dort ihre Jungen grosszuziehen. Der wissenschaftliche Leiter des Parks sieht in den langbeinigen Vögeln mit ihrem zart rosafarbenen Gefieder ein Zeichen der Hoffnung. Dass die anspruchsvollen Tiere inmitten des Konflikts die vergleichsweise ungestörten Lebensräume für sich entdeckt haben, macht ihm Mut. «Die Natur kann sich wieder erholen, wenn wir ihr Raum dazu geben», sagt der Biologe im Gespräch.
Akribisch registrieren Rusew und seine Kollegen seit Kriegsausbruch die ökologischen Schäden in ihrem Küstenschutzgebiet nahe der russisch besetzten Krim-Halbinsel. Besonders hart habe es die Delfine getroffen, berichtet er. Sie wurden durch Seeminen getötet und durch die Sonare der russischen Kriegsschiffe ihrer Orientierung beraubt. Auf 50’000 schätzt Rusew auf Basis von Stichprobenzählungen die Zahl der getöteten Tiere – das wäre etwa jeder Fünfte der vor dem Krieg in der Region heimischen Meeressäuger.
Das Delfinsterben im Schwarzen Meer hat im ersten Kriegsjahr international Schlagzeilen gemacht. «Aber es gibt viele Schäden an Natur und Tierwelt, die nicht so offensichtlich sind wie tote Delfine, die an den Strand gespült werden», sagt der Naturschützer. So hat er beobachtet, dass viele Vogelarten ihr Verhalten durch den Krieg stark verändert haben. Die schwersten Angriffe in den Wochen nach dem russischen Überfall im Februar 2022 seien zeitlich mit dem Durchzug Hunderttausender Zugvögel zusammengefallen. Die Tiere machen für gewöhnlich in der Ukraine auf ihrem Weg von Afrika zurück in die nord- und osteuropäischen Brutgebiete Rast, um Energie für den Weiterflug zu tanken. Verstört von Lärm und Bomben, hätten selbst grosse Schwärme aus Tausenden Watvögeln das Gebiet fluchtartig verlassen, berichtet Rusew. «Der Krieg bringt sogar den Rhythmus des Vogelzugs durcheinander.»
Wohin ziehen die Vögel im Winter? Welche Lebensräume suchen sie bevorzugt auf?
Die Beobachtungen, die Rusew als Augenzeuge beschreibt, haben Wissenschaftler-Kollegen von ihm gerade mit einer aufwendigen Studie bestätigt. Forscher aus Estland und Grossbritannien werteten die minutengenauen Aufenthaltsdaten von fast zwei Dutzend Schelladlern aus, die in den Wochen nach Kriegsbeginn über die Ukraine zogen. Dafür hatten sie bereits sechs Jahre zuvor gemeinsam mit Forschern vor Ort damit begonnen, den vom Aussterben bedrohten Greifvögeln als Küken in ihren Brutgebieten in Belarus kleine GPS-Sender auf den Rücken zu schnallen.
So wollten sie das Verhalten der Vögel über einen langen Zeitraum hinweg studieren: Wohin ziehen die Vögel im Winter? Welche Lebensräume suchen sie bevorzugt auf? Wo sind sie besonderen Gefahren ausgesetzt? Mit Antworten auf diese Fragen wollten sie zum Schutz der nur noch wenige Hundert Schelladler in Europa beitragen. Mit Kriegsausbruch in der Ukraine bot sich ihnen die Gelegenheit, die Auswirkungen menschlicher Konflikte auf die Tierwelt zu dokumentieren.
Die ersten der besenderten Vögel tauchten im März und April 2022 in der Ukraine auf. Sie waren auf dem Rückweg aus ihren Überwinterungsgebieten im Nahen Osten und in Südosteuropa. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Krieg in der Ukraine bereits stark ausgeweitet. Obwohl die Adler meist in einer Höhe von rund 350 Metern fliegen, veränderten sie ihr Verhalten gegenüber den Vorjahren stark: Sie wichen häufiger vom Kurs ab und liessen häufig Pausen in Gebieten ausfallen, die sie sonst besonders gerne aufgesucht hatten, um ungestört nach Nahrung zu suchen und sich zu erholen.
Trotzdem brauchten sie länger für die Passage über die Ukraine als üblich. Die Wissenschaftler vermuten, dass die Adler mit Panik- und Fluchtbewegungen auf zahlreiche Störfaktoren reagiert haben, statt sich an ihren Flugplan zu halten, der durch Jahrtausende der Evolution auf zielgerichtetes und zugleich kräftesparendes Vorankommen optimiert ist: Artilleriefeuer und der Lärm von Düsenflugzeugen und Panzern dürften die Vögel ebenso zu kräftezehrenden Manövern und Umwegen gezwungen haben wie die grosse Zahl von Soldaten und Zivilisten auf der Flucht, die sich in sonst ungestörten Gebieten aufhielten.
Im Schnitt benötigten die Adler gut zwei Tage länger für den Flug über die Ukraine. Diese auf den ersten Blick geringen Verschiebungen könnten weitreichende negative Folgen für die ohnehin gefährdeten Vögel haben, fürchten die Forscher. «Die mit dem Konflikt verbundenen Verhaltensänderungen hatten wahrscheinlich schwerwiegende Auswirkungen auf die körperliche Fitness der Vögel», schreiben sie im Fachjournal «Current Biology». Eine grössere Sterblichkeit der Altvögel und einen geringeren Erfolg im Folgejahr nennen sie als möglichen Preis für den Stress, den die Vögel in der Ukraine erlebt haben.
Der Krieg liess auch die Forscher selbst nicht kalt, die Jahre zuvor die Adler in ihren Nestern mit den Sendern versehen hatten. Der Ornithologe Valery Dombrovski, der die Daten der ziehenden Adler in Echtzeit verfolgte, schrieb in einem Blog über den Zugweg eines Adlerweibchens: «Ihre Flugroute kreuzte inzwischen berüchtigte Orte: Irpin, Hostomel und Butscha, wo schreckliche Massaker stattfanden – glücklicherweise können Vögel diesen Horror nicht verstehen.»
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