Hilfswerke kritisieren Bundesrat «Desaströser Entscheid» – Streit um Schweizer Ukraine-Gelder spitzt sich zu
Die Regierung will die erste Tranche der Wiederaufbau-Milliarden überraschend ganz in der Entwicklungshilfe streichen. Hilfswerke warnen, Cassis nennt den Entscheid «pragmatisch».
Wenn in Bundesbern Gelder im grossen Stil ausgegeben wird, dann ist das häufig begleitet von einer Frage und einem Aufschrei.
Die Frage lautet: Auf wessen Kosten geht es? Und mit der Antwort ertönen sogleich allerorten laute Seufzer, in den Bauernstuben, in den Universitäten, in den Kommandoposten der Armee: Nicht bei uns.
Am meisten aber fürchten sich in solchen Momenten die Organisationen der Entwicklungshilfe. Sie wissen aus Erfahrung: Häufig trifft es sie. Wie auch jetzt.
Suche nach «weiteren Finanzierungswegen»
Der Bundesrat hat beschlossen, dass die Ukraine bis 2036 für ihren Wiederaufbau mit fünf Milliarden Franken unterstützt werden soll. Die Weltbank schätzt die Kosten dafür insgesamt auf rund 440 Milliarden Franken.
Der Bundesrat spricht das Geld in einer angespannten Finanzlage. Laut gut informierten Quellen wollte Aussenminister Ignazio Cassis ursprünglich sechs Milliarden sprechen und diese zu zwei Drittel über das IZA-Budget finanzieren – das sind die Ausgaben für die internationale Zusammenarbeit.
Das war für Wirtschaftsminister Guy Parmelin (SVP) und Finanzministerin Karin Keller-Sutter (FDP) zu wenig: Sie forderten dem Vernehmen nach, dass 90 Prozent auf Kosten der Entwicklungshilfe gehen.
Der Bundesrat hat nun Cassis’ Vorschlag auf 5 Milliarden runterkorrigiert und auch die Aufteilung angepasst. Die erste Tranche von 1,5 Milliarden läuft bis 2028 – und soll nun vollumfänglich über das IZA-Budget finanziert werden.
Für die Phase 2029 bis 2036 und die restlichen 3,5 Milliarden will der Bundesrat «weitere Finanzierungswege» prüfen. Übersetzt heisst das: Der Bundesrat weiss noch nicht, wie er das finanzieren soll.
Jährlich gibt die Schweiz rund 4 Milliarden Franken für die Entwicklungshilfe aus. Durch das Ukrainepaket verliert diese bis 2028 knapp 400 Millionen pro Jahr.
Pläne seien für internationale Zusammenarbeit verheerend
«Das ist eine absolute Katastrophe», sagt Andreas Missbach. Der Geschäftsführer von Alliance Sud, dem Kompetenzzentrum für internationale Zusammenarbeit und Entwicklungspolitik, ist sich harsche Worte gewohnt. Er nutzte sie schon, als erste Kürzungspläne des Bundesrats letzten Dezember publik wurden.
Was der Bundesrat nun vorschlägt, sei für die internationale Zusammenarbeit noch dramatischer. «Jetzt will er den ganzen Wiederaufbau bis 2028 aus dem IZA-Budget finanzieren, ohne dass dieses wächst, das kann doch nicht sein?» Missbach sorgt sich, dass es auch nach 2029 wieder die Entwicklungszusammenarbeit treffen werde.
Der NGO-Vertreter bekommt Unterstützung von der SP, die von einem «desaströsen Entscheid» spricht. Die Partei wolle sich im Parlament «mit aller Kraft» dafür einsetzen, den Entscheid zu korrigieren und andere Finanzierungswege zu finden.
Noch sei offen, wo die Entwicklungszusammenarbeit zugunsten des Ukraine-Wiederaufbaus gekürzt werden würde. «Der Bund konnte uns hierzu noch keine Antwort liefern.» Missbach geht davon aus, dass in allen Bereichen Einsparungen gemacht würden, «am wenigsten wohl im humanitären Bereich, wegen der zahlreichen humanitären Notlagen».
Aussenminister Ignazio Cassis sprach am Dienstag vor den Medien von einem «pragmatischen Entscheid». Die internationale Kooperation basiere auf drei Säulen: der humanitären Hilfe, der Entwicklungshilfe und der Friedensförderung. Da der Bedarf bei der ersten und dritten Säule steige, müsse das Geld für den Ukraine-Wiederaufbau aus dem Geldtopf für die Entwicklungshilfe finanziert werden. Konkreter wurde Cassis aber nicht.
Der Berner SVP-Nationalrat Lars Guggisberg ist angesichts der Finanzlage des Bundes gegen diesen finanzpolitisch weitreichenden Entscheid. «Sollte der Vorschlag dennoch angenommen werden, ist zwingend, dass solche Ausgaben nicht ausserordentlich finanziert werden.» Im Raum stand die Variante eines Fonds, der eben dies verlangt hätte. Der Nationalrat lehnte einen solchen im März aber ab.
Schweizer Wirtschaft könnte profitieren
Falls das Parlament die 5 Milliarden Franken an die Ukraine bestätige, sollen diese Gelder unbedingt auch der Schweizer Volkswirtschaft zugutekommen, sagt Guggisberg und meint Aufträge an Schweizer Firmen. Darauf deutet hin, dass im Länderprogramm Ukraine neben dem Aussendepartement EDA auch das Wirtschaftsdepartement WBF beteiligt ist.
Missbach von Alliance Sud hingegen ist skeptisch gegenüber der neuen Organisationsstruktur. «Wenn das Wirtschaftsdepartement involviert ist, geht die Entwicklungshilfe plötzlich mehr Richtung Schweizer Wirtschaftsförderung.» Für Missbach ein weiterer Affront.
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