Tamedia-Umfrage zum Ukraine-KriegÜberraschend grosse Mehrheit will auf russisches Gas verzichten
Sollen die Sanktionen gegen Russland auch auf Gaslieferungen ausgedehnt werden? Zwei Drittel der befragten Bevölkerung sind dafür – auch wenn deswegen die Energiepreise steigen.
Der Westen erhöht den Druck auf Russland weiter: Die EU berät zurzeit an einem Gipfeltreffen mit US-Präsident Joe Biden über weitere Verschärfungen der Sanktionen.
Zuoberst auf der Traktandenliste: ein Importstopp für russisches Öl und Gas. Insbesondere Deutschland hat sich bis jetzt dagegen gewehrt. Das Land ist stark abhängig von russischen Gaslieferungen. Die Folge wären eine Preisexplosion und Versorgungsengpässe.
Die Schweiz bezieht die Hälfte ihres Erdgases aus Russland, primär zum Heizen. Nun zeigt sich: Dennoch befürworten zwei Drittel der Schweizerinnen und Schweizer einen Verzicht auf russisches Gas. Sie tun das im vollen Bewusstsein darüber, dass die Massnahme das Gas verteuern würde. Das zeigt eine repräsentative Onlineumfrage von Tamedia und «20 Minuten» mit rund 12’000 ausgewerteten Teilnahmen.
Isabelle Stadelmann forscht an der Uni Bern zur Schweizer Energiepolitik. Die Politologieprofessorin ist überrascht, wie hoch die Zustimmungsrate ist: «Das war nicht zu erwarten – vor allem, weil in der Fragestellung explizit auf die Folgen eines Importverzichts hingewiesen wurde.»
Stadelmann warnt aber auch: «Die Zustimmung würde vermutlich sinken, wenn das Vorhaben Gegenstand einer politischen Kampagne wäre und dabei nicht nur Preiserhöhungen, sondern beispielsweise auch die Bedeutung der Importe für die Energieversorgung thematisiert würde.»
Ein Indiz dafür, dass es Schweizerinnen und Schweizern mit der Energie-Unabhängigkeit von Russland ernst ist, zeigt sich in den Antworten auf die Frage, ob man sich schon selbst beim Verbrauch von fossiler Energie einschränkt. Ein Drittel hat das bereits getan, ein weiteres Viertel will sich künftig mehr einschränken. Nur für gut ein Drittel ist das kein Thema.
Ein Weg aus der Abhängigkeit von Öl und Gas ist die Kernenergie. Mit dem Beschluss der FDP, sich für den Bau neuer Kernkraftwerke einzusetzen, stand sie schon vor dem Krieg wieder auf der politischen Agenda.
In der Tamedia-Umfrage zeigt sich: Befürworter und Gegner halten sich die Waage. Kein Lager kommt über 50 Prozent hinaus.
Die Tamedia-Umfrage ist der erste grosse Stimmungstest in dieser Frage, seit das Volk 2017 das neue Energiegesetz und damit die Energiewende mit dem Auslaufen der Kernenergie beschlossen hat. Politologin Isabelle Stadelmann hält das Ergebnis für bemerkenswert: «Nach dem beschlossenen Ausstieg wäre ein Schrumpfen des Pro-Lagers keine Überraschung gewesen.»
Den Grund für die nach wie vor bestehende Unterstützung für die Kernkraft sieht Stadelmann in einer Ernüchterung über die Fortschritte bei der Energiewende: «Man sieht, dass es bei Sonnen- und Windstrom harzt und auch der Ausbau der Wasserkraft stockt.» Angesichts drohender Versorgungslücken erscheine die Kernkraft deshalb in Teilen der Politik wieder attraktiv.
«Die Ergebnisse der Befragung zeigen, dass die FDP mit ihrem Bekenntnis zu neuen Kernkraftwerken nicht ganz am Volk vorbei politisiert», sagt Stadelmann. Bei den Sympathisantinnen und Sympathisanten der Mitte-rechts-Parteien bestehe für das Thema politisches Potenzial.
Stadelmann warnt aber auch hier: «Sobald es um konkrete Kernkraftprojekte, deren Kosten und Folgen geht, dürfte die Zustimmung schrumpfen.» Zudem ist für Stadelmann die Kernkraftdiskussion sehr, sehr theoretisch: «Die Machbarkeit, etwa auch ein Interesse von Investoren an Kernkraft-Neubauten, ist fragil.»
Fehler gefunden?Jetzt melden.