Operation «Rassepferde»Über 200 Jahre Gefängnis für Mafiosi aus Italien und der Schweiz
Wegen eines umgebrachten Wirts in der Ostschweiz gibt es nun – nach Jahren mit Flops – einen überraschenden Grosserfolg im Kampf gegen die kalabrische Mafia.

Am 29. April 2017, kurz vor 21.30 Uhr, fällt hinter einem italienischen Clublokal in Sargans ein Schuss. Ein 40-jähriger Italiener, der in der Region mehrere Restaurants geführt hat, liegt in einer Blutlache. Der Schütze, ein 28-jähriger Landsmann des Opfers, stellt sich der Polizei. Die Ermittlungen gehen in alle Richtungen: Gab es zuvor einen Betrug? Drogenhandel? Ein Beziehungsdelikt?
Der Täter, der als Gipser in Liechtenstein lebte, wird wegen vorsätzlicher Tötung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Er hatte eine Affäre mit der Frau des Wirts (und der Wirt wiederum eine Affäre mit der Partnerin des Gipsers). Der Gipser tötete den Wirt, als dieser ihn bedrohte und attackierte.
Vier Jahre Ermittlungen, dann schlägt das Fedpol zu
«Die Geschichte ist aber nicht so banal», schreibt das Bundesamt für Polizei (Fedpol) in seinem aktuellen Jahresbericht. Denn der Fall des toten Wirts hat weitreichende Folgen. «Für das Fedpol ist diese Leiche der Ausgangspunkt für zwei parallel geführte Ermittlungen zwischen der Schweiz und Italien. Sie ist der entscheidende Teil des Puzzles, das die italienischen Behörden mit ihrer Grossoperation ‹Cavalli di Razza› gegen die ‘Ndrangheta – die in der Schweiz am stärksten vertretene italienische Mafiaorganisation – zu lösen versuchen.»
Es folgen viereinhalb Jahre intensiver Ermittlungen. Die Operation «Rassepferde» (Cavalli di Razza) ist hoch geheim, bis die Polizei zuschlägt. 180 Beamte des Bundes und der Kantone Tessin, Graubünden, St. Gallen und Zürich und noch viele mehr in Italien führen Razzien durch.
«Und Bingo!»
Am 16. November 2021 um Punkt 3.30 Uhr beginnt der Einsatz. «Eines der Ziele ist ein Fahrzeug, das mutmasslich für Fahrten zwischen der Schweiz und Italien genutzt wird», schreibt das Fedpol. «Und Bingo! Unter dem Fahrersitz wird ein elektronisch abschliessbarer Behälter entdeckt: Er enthält drei Pistolen und Munition.» In der Schweiz werden sechs Personen festgenommen, in Italien 98. Das Fedpol frohlockt: «Die Schweiz ist kein sicherer Hafen mehr für die Mafia.»
Über ein Jahr später, kurz vor Weihnachten 2022, beurteilt erstmals ein Mailänder Gericht den «Rassepferde»-Fall. Jene 34 Beschuldigten sind angeklagt, die in ein abgekürztes Verfahren eingewilligt haben und denen die Strafe im Gegenzug nun um ein Drittel reduziert wird. Alle 34 werden verurteilt. Darunter sind gemäss Bundesanwaltschaft drei Ausgelieferte aus der Schweiz sowie drei weitere Personen mit Schweiz-Bezug. Italienische Medien errechnen eine gesamte Gefängnisstrafe von 230 Jahren für alle 34 Verurteilte.

Im mündlich am 19. Dezember in Mailand verkündeten Urteil geht es nicht nur um das grenzüberschreitende Kokaingeschäft der ‘Ndrangheta, der Mafiaorganisation aus dem süditalienischen Kalabrien. Es geht auch um Vorgänge in Como, jener Provinz, die ans Tessin grenzt. Die Lokalzeitung «Provincia di Como» erklärte das Gebiet um den Comer- und den Luganersee zum «eroberten Land der kalabrischen Unterwelt».
Zumindest in den italienischen Teilen der Region beherrscht die ‘Ndrangheta nicht nur den Kokainhandel, sondern versuchte auch, mit Drohung und Erpressung Einfluss auf die legale Wirtschaft zu nehmen. Mafiosi terrorisierten die Mitarbeiter einer norditalienischen Getränkefirma, und sie wollten ein lokales Transportunternehmen übernehmen.
Die sechs Verurteilten mit Schweiz-Bezug – teilweise lebten sie jahrelang hier – gehören zu den von der ersten Instanz am härtesten Bestraften: Zwei von ihnen haben gemäss Bundesanwaltschaft wegen Zugehörigkeit zu einer kriminellen Organisation sowie Drogenhandel Freiheitsstrafen von zehn Jahren erhalten (bei einem kommt noch Waffenhandel dazu). Die vier weiteren erhielten vier bis acht Jahre Gefängnis wegen Mafiazugehörigkeit und Drogendelikten. Das Urteil ist für die Bundesanwaltschaft «auf die gute und zielgerichtete grenzüberschreitende, aber vor allem auch nationale Zusammenarbeit zurückzuführen, die auch in Zukunft gepflegt und noch weiter ausgebaut werden soll».

Es gab in dieser Zusammenarbeit lange Misstöne und Misserfolge. So musste die Bundesanwaltschaft noch im September sechs Einstellungsverfügungen im Fall der angeblichen Thurgauer ‘Ndrangheta-Zelle erlassen. Diese Ermittlungen erregten viel Aufsehen, nachdem die italienische Polizei ein Observationsvideo der «Operation Helvetia» von 2011 veröffentlicht hatte: In einem Hinterzimmer in Wängi bei Frauenfeld reden Männer im ‘Ndrangheta-Jargon über neue Mitglieder, alte Traditionen und Drogengeschäfte. Die unscharfen Bilder wirken wie aus einem schlechten Mafiafilm.
Freispruch nach drei Jahren Haft
Es kam zu Verhaftungen und Auslieferungen nach Italien, wo 15 Angeklagte hohe Freiheitsstrafen erhielten. Doch dann kippte ein Kassationsgericht in Kalabrien einen Schuldspruch nach dem anderen. Die Richter der zweiten Instanz sahen keine Verbindung zur Mafia: Die für die ‘Ndrangheta typischen Erpressungen und Drohungen seien nirgends auszumachen, eine Thurgauer ‘Ndrangheta-Zelle ebenso wenig. Mehrere Beschuldigte sassen bis dahin über drei Jahren in Haft. «Mein Klient muss nun sein kleines Unternehmen neu aufbauen», sagt Anwalt Valentin Landmann, der einen jungen Thurgauer Familienvater vertritt. «Schlimmer für ihn war aber, dass er seinen kleinen Sohn und seine Frau nicht sehen konnte.»
Die letzten Freisprüche erfolgten im November 2021, nur Tage vor den Razzien der Operation «Rassepferde».
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