Folgen der Corona-PandemieTschechien hat eine der höchsten Covid-Todesraten in Europa
Trotz des monatelangen Lockdown ist die Übersterblichkeit so hoch wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Mehr noch als eine Erkrankung fürchten viele Menschen finanzielle Not.
Mehr als eine Million Menschen haben sich in Tschechien seit Ausbruch der Pandemie mit Sars-CoV-2 infiziert. Das ist ein Zehntel der Bevölkerung. Die Übersterblichkeit ist so hoch wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Auf der traurigen Liste der EU-Länder mit der höchsten Todesrate haben nur Belgien und Slowenien schlimmere Zahlen – Tschechien liegt im weltweiten Vergleich selbst vor den USA.
Dabei ist schon seit Anfang Oktober das öffentliche Leben heruntergefahren, es gelten Kontaktbeschränkungen, nächtliche Ausgangssperren. Kneipen, Läden, Hotels, alles geschlossen. Betreuung und Unterricht gibt es nur für die Kleinsten von der Krippe bis zur zweiten Klasse. Das Gesundheitssystem ist am Anschlag, aber noch funktioniert es. Trotzdem zählt man fast 17’000 Tote – und die Regierung scheint keinen Ausweg zu finden.
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«Es sind sicher schon mehr als 17’000», sagt der Epidemiologe Petr Smejkal in Prag am Telefon. Er geht davon aus, dass mindestens zwei Millionen Menschen sich mit dem Virus infiziert haben, «vielleicht sogar ein Viertel der Bevölkerung». Zu wenige verfügbare Tests, kaum Nachverfolgung und Ladenöffnungen vor Weihnachten seien Gründe für die Ausbreitung des Virus. Vor allem aber: «Die Leute halten sich nicht mehr an die Regeln.»
Lohnersatz fehlt
Dazu passt, was der Soziologe Daniel Prokop mit seinem Team festgestellt hat: Nur wenige Menschen lassen sich in Verdachtsfällen testen, und jene, die positiv sind, geben keine oder maximal eine Kontaktperson an. Um niemanden in Schwierigkeiten zu bringen. «Es fehlt die Motivation», sagt Prokop. Und die lautet ganz einfach: Geld.
Mehr als eine Erkrankung fürchten die Menschen offenbar die finanzielle Not, die sich für immer mehr Tschechen existenzbedrohlich auswächst. Weil Lohnersatz fehlt oder, bei ohnedies im EU-Schnitt sehr geringen Löhnen, viel zu niedrig ausfällt. «Das Virus verbreitet sich am Arbeitsplatz», sagt Prokop. Wer in der Pandemie noch einen hat, versuche, ihn zu erhalten. Zudem hat der tschechische Arbeitsmarkt vergleichsweise wenige Homeoffice-Tätigkeiten zu bieten, dafür mehr in der Industrie oder Verarbeitung.
Linksliberale Piraten holen auf
Die Opposition hat das Problem erkannt. Sie will nicht nur die Pandemie stoppen, sondern auch im Oktober Parlamentswahlen gewinnen. Und derzeit hat sie gute Chancen. Die Beliebtheit der Regierungspartei Ano von Premier Andrej Babis ist deutlich gesunken. Zugleich holt die schon lange zweitbeliebteste Partei der linksliberalen Piraten ordentlich auf.
Deren stellvertretende Vorsitzende Olga Richterova kämpft für ein besseres Sozialsystem. «Viele haben ihre Ersparnisse aufgebraucht», sagt die 36-Jährige. «Und die Hilfsprogramme haben grosse Löcher.» Zu wenige Menschen würden berücksichtigt, die Auszahlung gehe zu langsam. Schwarzarbeit nehme zu, und da werde erst recht nicht kontrolliert, ob jemand gesund sei.
Auch Mitarbeiter der staatlichen Stellen, die Tests und Nachverfolgung organisieren, seien überlastet und unterbezahlt. Für Richterova auch ein Ergebnis schlechter Planung. «Nach dem gut überstandenen Frühjahr wollte der Premier von der Pandemie nichts mehr hören.» Auf seinen Social-Media-Kanälen erzeugt Babis den Eindruck höchster Betriebsamkeit, gibt sich als Krisenmanager, zeigt sich in Krankenhäusern und Impfstationen. Wer ihn dabei mit welchem Ergebnis berät, bleibt oft unklar.
«Uns fehlt eine zentrale Organisation», sagt Epidemiologe Smejkal. Eine Organisation, an der sich Bevölkerung und Regierung orientieren könnten – und die Vertrauen schaffte. Denn das hätten die Bürger längst verloren. Seit September ist bereits der dritte Gesundheitsminister im Amt, und auch dieser agiert zunehmend hilflos und bestärkt mit verwirrenden Äusserungen Corona-Leugner. So will er etwa die hohe Zahl der Toten mit einer anderen Zählweise als in anderen Ländern erklären.
Müde und verzweifelt
Auf fatale Weise wächst so gegenseitiges Misstrauen. Misstrauen der Bürger in ihre Regierung – und umgekehrt. So wurden Corona-Hilfsprogramme auch mit der Begründung abgelehnt, das führe nur dazu, dass die Bürger den Staat ausnutzten. Gesundheitsminister Jan Blatny liess sich zu der Aussage hinreissen, es sei doch ungerecht, Covid-Erkrankten eine Hilfe auszuzahlen, Leukämie-Patienten aber nicht.
«Die Leute sind müde und verzweifelt», sagt Marketa Pekarova Adamova, Vorsitzende der liberal-konservativen Partei TOP09. Müde von den Zahlen, müde vom Kommunikationschaos der Regierung, beschäftigt mit Existenzsorgen. Die Verschärfung der Massnahmen Ende Januar hat die Politikerin kritisiert, auch den seit Oktober geltenden Notstand wollte ihre Partei nicht länger mittragen. «Einfach nur strengere Massnahmen beschliessen hilft nicht», sagt die 36-Jährige, «man muss sie auch erklären.»
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