Traditionsrennen in GattikonDer Frühlingslauf schafft die Siegerehrung für Kinder ab
Am 1. Mai bestreiten Hunderte den Sihltaler Frühlingslauf. Dieses Jahr erstmals mit pädagogischem Ansatz: Die Jüngsten können weder gewinnen noch verlieren.

Der Sihltaler Frühlingslauf lockt jedes Jahr Laufsportbegeisterte nach Gattikon. So schnürten sich letztes Jahr selbst bei starkem Regen rund 500 Freizeitsportlerinnen und -sportler die Laufschuhe und legten 10, 5,2 oder 1,8 Kilometer durch das matschige Sihltal zurück. Etwas weniger weit kämpften sich aber auch über hundert Teilnehmende mit noch kurzen Beinen durch den Regen. Teilnehmen dürfen nämlich alle, die schon laufen können.
Dieses Jahr verspricht die Wetterprognose einmal mehr dreckige «Wädli». Das Organisationskomitee verspricht jedoch auch etwas, das es an den vergangenen 21 Sihltalläufen noch nie so gegeben hat: einen pädagogisch wertvollen Frühlingslauf. Sprich einen, an dem kein Kind unter zehn Jahren in seiner Kategorie gewinnen oder verlieren kann.
Siegerehrung kann entmutigen
«Wir haben uns entschieden, die formelle Siegerehrung für kleine Kinder abzuschaffen», teilen die Organisatoren auf ihrer Website mit. Man habe den Wunsch, die sportliche Reise der Jüngsten positiver zu gestalten und den Wettkampfdruck zu minimieren. Unter den Volksläufen in der Region ist das eine Neuheit.
Von der Neuerung betroffen sind die Kategorien Mini und Midi. In diesen legen Kinder unter sechs Jahren 450 Meter zurück, für Sechs- bis Zehnjährige beträgt die Wettkampfstrecke 960 Meter. «Und das bleibt auch so», sagt OK-Mitglied Thomas Fässler. Die Motivation, diese Strecke zu rennen, soll jedoch künftig nicht mehr der Konkurrenzkampf sein.
Es gehe vor allem darum, dass der Frühlingslauf für alle teilnehmenden Kinder ein Erfolgserlebnis sei, erklärt er. «Unsere Hoffnung ist natürlich, dass damit die Motivation steigt und längerfristig auch die Teilnehmerzahl.» «Eine Siegerehrung könnte dazu führen, dass sich Kinder, die nicht gewinnen, benachteiligt oder entmutigt fühlen», schreiben die Organisatoren.
Was spornt dann an?
Die Idee hat sich im Sihltal bei der alljährlichen Ideensammlung ergeben. «Ein OK-Kollege setzt sich vertieft mit dem Thema Leistungsdruck auseinander», erzählt Fässler. Ein spezifisches negatives Ereignis habe es aber nicht gegeben, das den Entscheid forciert hätte.
Auch die Bekanntgabe der neuen Regel habe aufseiten der Eltern bisher nur wenige Reaktionen ausgelöst. Etwa in Form der Nachfrage, ob die Kinder nun gar keine Medaille mehr gewinnen könnten. Eltern sorgen sich, dass ohne Chance auf Gewinn auch der Ansporn fehle. «Eine Medaille gibt es aber nach wie vor», besänftigt Fässler, und zwar für alle, die mitmachen.
Das Podest für nur drei Kinder wird durch ein Gruppenfoto mit allen abgelöst. Eine alphabetische Zeittabelle wird es jedoch für die kleinen auch dieses Jahr geben. Diese anzuschauen und auszuwerten, ist den Familien aber selbst überlassen.
«Leistungsdruck gehört zu Sport»
Mit dem psychologischen Aspekt des Sports beschäftigt sich Katharina Albertin täglich in ihrer Praxis für Sportpsychologie und Psychotherapie in Wädenswil. Die Sportpsychologin sagt: «Was beim Sihltallauf nun eingeführt wird, macht Sinn.» Denn gerade die Freude an Sport und Bewegung sei ja der Ursprungsgedanke solcher Volksläufe.
«Heute weiss man, dass es für lebenslange freudige Bindung an den Sport wertvoll ist, möglichst spät mit Rangierungen zu beginnen und möglichst lange die Freude an Bewegung zu betonen», erklärt Albertin. Hierbei sei sich die Wissenschaft einig, obwohl viele Kinder und Jugendliche durchaus Freude am sozialen Vergleich und am Wetteifern um Medaillen haben.
Diese äussere Motivation eines Wettstreits mit anderen, die oftmals auch die Eltern in ihren Bann zieht, werfe aber ihre Schatten, relativiert die Sportpsychologin, die auch Stiftungsrätin von Swiss Sport Integrity ist. «Leistungsdruck gehört zum Leistungssport», sagt sie. «Aber die grosse Frage ist: Ab welchem Alter macht es Sinn, zu selektionieren und damit den Leistungsdruck von aussen zu erhöhen?»
Norweger rangieren erst ab der Oberstufe
Damit spricht die Expertin den Aspekt der körperlichen und psychischen Entwicklung an. Dass diese nicht bei allen Kindern gleich schnell verläuft, gewichten auch die Organisatoren des Frühlingslaufs stark. «Leistungsentwicklung ist immer auch an den Entwicklungsstand gekoppelt», sagt Albertin. Tendenziell wolle man zu früh vergleichen und Talente selektionieren.
Als Beispiel nennt Albertin die weltweit führende Langlaufnation Norwegen, die «bis ins Oberstufenalter konsequent auf Ranglisten verzichtet». Der Grundsatz dahinter: Wenn sich die Freude zuerst ohne Druck aufbaut, erhöht dies die Chance, psychisch robust und freudig im Leistungs- oder Breitensport zu bleiben. «Das lässt sich genauso auf den Sihltallauf übertragen», sagt sie.
Und so wird es nun am 1. Mai zum ersten Mal ausprobiert. Das Organisationskomitee wird beim Start und Ziel auf dem Schulareal Schweikrüti entsprechende Rückmeldungen sammeln. Laut Fässler soll sich auf dem Weg ins Ziel nämlich zeigen, welcher Weg durch das Sihltal Richtung Zukunft führt.
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