Tour de Suisse als TalentschauDer jüngste kommende Radstar ist ein Schweizer
Jan Christen ist noch keine 20 und bestreitet seine erste Tour de Suisse. Er ist eines von vielen Grosstalenten, die am Sonntag in Vaduz antreten.
Der Radsport wird jünger und jünger: In den vergangenen Jahren sind die grossen Teams dazu übergegangen, die besten Nachwuchsfahrer bereits aus der Juniorenkategorie zu verpflichten, worauf diese direkt zu den Profis aufsteigen. Die Zwischenstufe U-23 überspringen sie. Das zeigt sich auch an der Tour de Suisse: 26 Fahrer sind 22 und jünger. Darunter figurieren einige Namen, welche bald Pogacar und Co. herausfordern werden oder gar ablösen wollen.
Der frühe Aufstieg hat aber seine Tücken: Die Gefahr, dass ein Junior beim Rennen unter den gestandenen Profis verheizt wird, ist deutlich grösser als bei einem Aufsteiger aus der U-23.
Der Rekordmann: Isaac Del Toro
Die Tour de l’Avenir ist ein verlässlicher Talent-Indikator. Wer in der wichtigsten Nachwuchsrundfahrt brilliert, reüssiert mit ziemlich grosser Wahrscheinlichkeit auch bei den Profis. Umso ausserordentlicher war vergangenen Sommer die Leistung von Isaac Del Toro. Seine Heimat Mexiko ist definitiv nicht als Veloland bekannt. Nach dem Sieg in Frankreich konnte er auswählen: Elf Worldtour-Teams buhlten laut der «Gazzetta dello Sport» um ihn, UAE-Emirates mit Tadej Pogacar machte das Rennen. Wie überzeugt das Team von ihm ist, zeigt auch sein Vertrag: Der bis 2026 laufende Kontrakt wurde im April bereits bis 2029 ausgedehnt. Es ist damit der längste im Profiradsport.
Der Sohn des grossen Vaters: Thibau Nys
Kann ein Namen schwerer wiegen? Thibau Nys’ Vater Sven ist eine belgische Radquerlegende. Heute führt Nys senior selber ein Radquer-Team – und trainiert seinen Sohn. Der fährt ähnlich talentiert Quer-Rennen, mit stupender Fahrtechnik. Doch seine Zukunft dürfte im lukrativeren Strassenradsport liegen. Bereits vor einem Jahr schnappte er als 20-jähriger Neoprofi beim GP Gippingen Marc Hirschi den Heimsieg weg. Dieses Jahr pausierte er nach der Quersaison lange – und gewann zum Saisondebüt an der Tour de Romandie gleich eine Bergetappe.
«Er ist extrem professionell, zugleich aber nicht verbissen», sagt Gregory Rast, bei Lidl-Trek einer von Nys’ sportlichen Leitern. «Wenn er aber am Start steht, ist er enorm fokussiert. Das ist man sich von den Jungen nicht unbedingt gewohnt.» Rast sieht Nys einst als Jäger von Etappen bei Rundfahrten und Mann für Frühjahrsklassiker.
Von einer Last befreit: Marco Brenner
«Die Rolle als grosser Hoffnungsträger im deutschen Radsport ist Brenner erst mal los», bilanzierte das Tour-Magazin Ende 2023. Der 21-Jährige fährt bereits seine vierte Profisaison und galt nach vielen Siegen bei den Junioren als Deutschlands nächstes grosses Talent für Rundfahrten. In der Elite blieb Marco Brenner aber sieglos, darum das eingangs erwähnte Urteil. Auf dieses Jahr kam er bei Fabian Cancellaras Team Tudor Pro Cycling unter, hier scheint er sich wieder gefangen zu haben. Im März glückte ihm bei einer kleinen Rundfahrt in Italien der erste Profisieg. «Er ist sehr komplett für sein Alter, auch gut im Zeitfahren, kann sprinten, hat einen Renninstinkt», sagt Teamchef Raphael Meyer. Und warnt sogleich: «Aber wir müssen aufpassen, ihn nicht zu sehr hochzuloben!»
Der Jüngste: Jan Christen
Eineinhalb Wochen nach der Tour de Suisse wird Jan Christen 20. Der Debütant ist damit der mit Abstand jüngste Fahrer im Feld. Er gehört wie Del Toro zur Garde der Jungen bei UAE-Emirates, ebenfalls mit einem sehr langen Vertrag ausgestattet (bis 2028). Christen ist ein facettenreiches Talent: Bei den Junioren wurde er 2022 Weltmeister im Radquer, WM-Zweiter auf dem Mountainbike und Europameister auf der Strasse. Nun konzentriert er sich auf letztere Disziplin: «Der Fokus Strasse gilt, bis ich da zu den Weltbesten gehöre. Danach könnte ich mir vorstellen, auch wieder Abstecher zum Mountainbike oder Radquer zu machen.»
Am Giro d’Abruzzo gewann er jüngst sein erstes Profirennen, beim Eintagesrennen Eschborn–Frankfurt wäre ihm mit einer Soloattacke beinahe ein Coup gegen grosse Konkurrenz geglückt. «Ich bin daran, bei den Profis anzukommen», sagt der Gippinger. «Jetzt muss ich mich im Team hocharbeiten, vom Helfer zum Leader.» Keine ganz leichte Aufgabe angesichts der Talentdichte bei UAE. Aber nichts, was ihn nervös machen würde: «Ich kenne die Werte, die ich zu leisten imstande bin. Darum weiss ich: Ich bin dabei.»
Der Ex-Langläufer: Johannes Staune-Mittet
Wer in Norwegen Juniorenmeister im Langlauf wird, muss ziemlich gute physische Fähigkeiten mitbringen. Dennoch entschied er sich 2021, auf den Radsport zu setzen: Das Team Visma-Leaseabike verpflichtete ihn für seine Nachwuchsmannschaft. Mittlerweile ist er ins Eliteteam zu Vingegaard und Co. aufgestiegen. Als Ausrufezeichen in seinem Bewerbungsschreiben: der Gesamtsieg im «Baby-Giro», dem grossen italienischen Nachwuchsrennen. Diesen sicherte er sich an einem legendären Anstieg: Auf dem Stelvio kam er solo an. Wie passend für den Ex-Langläufer: Auf dem Gletscher unweit der Passhöhe absolvieren die Winterprofis jeweils gern ihre ersten Schneekilometer der Saison.
Der Bulle: Arnaud De Lie
Für den Belgier dürfte es eine monotone Tour de Suisse werden: Mit seinen knapp 80 Kilogramm ist er ein Mann für Sprints. Stattdessen weist dieser Parcours primär Berge auf. De Lie steht mit 22 schon in seiner dritten Profisaison und hat in dieser Zeit bereits 22 Siege erzielt. Den grössten beim GP Québec, der in Fahrerkreisen als eines der härtesten Rennen überhaupt gilt. In diesem Jahr glaubte man in Belgien, De Lie könne in den grossen Frühjahrsklassikern mitkämpfen. Das klappte nicht: Erst wurde «der Bulle», wie er angesichts seines Körperbaus genannt wird, von Stürzen zurückgebunden, erhielt nach weiteren schwachen Resultaten gar eine Pause auferlegt. Erst da stellte sich heraus, dass er an Borreliose erkrankt war. Davon ist De Lie genesen, in der Schweiz bereitet er sich auf seine erste Tour de France vor.
Das Streitobjekt: Cian Uijtdebroeks
Viele Fahrer träumen davon, eine Rundfahrt in den Top 10 zu beenden. Cian Uijtdebroeks gelang dies 2023 in allen vier Worldtour-Rennen, zu denen er antrat. Mit 20 Jahren! Damit bestätigte er sein Potenzial als Rundfahrer in der Elite, nach dem L’Avenir-Sieg im Jahr davor. Ende 2023 entbrannte sogar ein Streit um Uijtdebroeks: Das Team Visma-Leaseabike verkündete, man habe den Belgier verpflichtet. Sein aktuelles Team Bora-Hansgrohe antwortete, man habe nicht vor, ihn aus seinem bis 2024 laufenden Vertrag zu entlassen. Es drohte eine grosse Posse, ehe kurz vor Weihnachten doch eine Einigung zustande kam. Ob eine Ablöse bezahlt wurde? Wie viel man im dominanten niederländischen Team vom Neuzugang hält, zeigte sich daran, dass der 21-Jährige als Leader an den Giro geschickt wurde, wo Uijtdebroeks krank aufgeben musste. Was er bislang noch vermissen liess: den Killerinstinkt, den es für Siege braucht.
Die nächste Hoffnung Frankreichs: Lenny Martinez
Dass der Franzose zu dieser Aufzählung gehört, kann einen bei diesen Genen nicht verwundern: Opa Mariano gewann 1978 die Bergwertung der Tour, Vater Miguel wurde 2000 auf dem Mountainbike Olympiasieger und Weltmeister. Der 20-jährige Lenny hat Westentaschenformat: 1,68 Meter, 52 Kilogramm. Womit auch klar ist, wo seine Stärke liegt: am Berg. «Er ist ein cleverer Kerl, gewinnt meist mit einer sauberen Attacke», sagt Teamkollege Fabian Lienhard. Für Groupama-FDJ hat Martinez allein diese Saison schon fünf Rennen gewonnen. Umso mehr schmerzt es das Team, dass er künftig für das Team Bahrain fahren soll, zu deutlich höheren Bezügen. Natürlich hofft man in Frankreich, er sei die nächste grosse Hoffnung für die Tour. Da dürfte sein Format jedoch kein Vorteil sein: Für Zeitfahren ist er zu leichtgewichtig.
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