Rätsel-Gebäude in ZürichToni-Areal: Das steckt hinter dem Häuschen auf dem Bahnviadukt
Mitten auf dem Hardturmviadukt beim Toni-Areal thront ein einsames Häuschen. Die Rollläden sind seit langem zu. Dabei gilt die Blechkabine als besonders wertvoll.
Unbekannte waren schon dort oben. Und sie haben farbliche Spuren auf den Rollläden des Häuschens auf dem Bahnviadukt hinterlassen. Die Blechkabine mit Pultdach und grossen Fensterfronten steht an einem exponierten Ort – eingeklemmt zwischen den beiden Betonbrücken des Hardturmviadukts beim Toni-Areal.
Viele Passanten am stark frequentierten Mühleweg neben der Zürcher Hochschule der Künste dürften sich schon über das ungewöhnliche Häuschen über ihren Köpfen gewundert haben.
«Nein, es wohnt niemand drin», sagt Alex Helg, Anlageverantwortlicher der SBB-Region Ost. Zusammen mit SBB-Sprecher Reto Schärli führt er an diesem Morgen zum Brückenpfeiler des Hardturmviadukts direkt unter dem Häuschen, wo sich der Zugang befindet.
Ehemalige Stellwerkkabine
Helg zückt einen Schlüssel und öffnet die Tür zum Hohlraum des Betonpfeilers. Dort geht es über mehrere Treppen und vorbei an Bahntechnikräumen und Entwässerungsrohren hinauf ins Brückenlager direkt unter den Gleisen.
Gerade donnert ein Zug über den Viadukt und lässt das Gebäude erzittern. Eine Eisenleiter führt weiter zu einer Falltür, hinter der ein schmaler Weg das Gleis entlang zum Häuschen führen würde. Doch die Falltür bleibt geschlossen – aus Sicherheitsgründen, wie Reto Schärli sagt. Für eine Besichtigung müsste der Abschnitt über den Hardturmviadukt eigens gesperrt werden, weil der Abstand zu den Gleisen zu klein ist und das Lichtraumprofil nicht eingehalten werden kann. «Ohne Sperrung und Sicherheitsausrüstung ist eine Gleisbegehung tabu.»
Beim Häuschen auf dem Viadukt handelt es sich um eine ausrangierte Stellwerkkabine der SBB mit Baujahr 1981. Im Inneren befand sich früher ein Kommandopult des Stellwerks.
Kabine war nicht ständig bedient
Allerdings war die Kabine nicht permanent bedient, wie Schärli sagt. Bei normalem Bahnbetrieb wurden die Weichen auf dem Hardturmviadukt schon früher ferngesteuert. SBB-Angestellte mussten die exponierte Stellwerkkabine nur in Ausnahmefällen aufsuchen, etwa bei Störungen oder Unterhaltsarbeiten.
Die Stellwerkkabine wurde im November 2015 stillgelegt und ausgeräumt. Seither steht das Häuschen leer. Die Weichen werden nun auch bei Bauarbeiten von der SBB-Betriebszentrale am Flughafen Zürich aus ferngesteuert, wie Schärli sagt.
Interessant: Die versprayte Blechkabine steht unter Denkmalschutz, weil sie ein integraler Bestandteil des als schützenswert eingestuften Hardturmviadukts ist. «Das schlicht gestaltete Stellwerk ordnet sich den formal reduzierten Betonteilen des Brückenbauwerks unter, mit seinen filigranen Proportionen und seiner Materialisierung aus Metall definiert es sich selbst als technisches Ausstattungselement», heisst es im 2019 erschienenen Inventar der Denkmalschutzobjekte von überkommunaler Bedeutung.
Hardturmviadukt gilt als Pionierwerk
Der Hardturmviadukt, erbaut zwischen 1964 und 1981, gilt als «wichtiger bahngeschichtlicher Zeuge von landesweiter Bedeutung», wie es in der Schutzbegründung heisst. Der westliche, einspurige Schenkel ermöglichte eine direkte Güterzugverbindung zwischen dem Limmattal und der Nordostschweiz. Der östliche, zweispurige Schenkel schuf eine zweite Doppelspur für Personenzüge zwischen dem Zürcher HB und Oerlikon, was für die Einführung des Taktfahrplans 1982 notwendig war.
Im Denkmalschutz-Inventar ist zudem von einem «ingenieurbautechnischen Pionierwerk» die Rede. Zu seiner Bauzeit hätten die SBB noch kaum Erfahrung mit langen Brücken aus vorgespanntem Beton gehabt. Der Hardturmviadukt war auch lange Zeit die längste vorgespannte Eisenbahnbrücke Europas.
Auch aus städtebaugeschichtlicher Sicht gilt die Eisenbahnbrücke als bedeutend: Weil sie zusammen mit der Aussersihler Viaduktanlage und den jüngeren Gleisüberwerfungen «eine Architekturlandschaft aus diversen Brückenbauten mit grosser Fernwirkung» bilde, die das Gleisfeld und die Stadtteile im Norden und Süden bis heute trotz ihrer grossen Entfernung miteinander verzahnen.
Parallelen zum Reiterstellwerk Wiedikon
Laut SBB-Sprecher Reto Schärli handelt es sich bei der Stellwerkkabine um ein ziemlich einmaliges Gebäude, das es anderswo im SBB-Netz in dieser Form kaum mehr gebe. Parallelen weise das Häuschen allenfalls zum ebenfalls unter Schutz stehenden Reiterstellwerk am Bahnhof Wiedikon auf. Auch dort existiert nur noch das Gehäuse; Hebel, Seilzüge und Umlenkungen sind längst entfernt.
Pläne für eine neue Nutzung des Häuschens auf dem Hardturmviadukt haben die SBB keine, wie Schärli sagt. Wegen der exponierten Lage und aus Sicherheitsgründen komme dies nicht infrage. So bleibt das Häuschen bis auf weiteres so, wie es ist – leer.
Die Anlageverantwortlichen der SBB kontrollieren die Kabine sporadisch, genauso wie den Brückenpfeiler mit dem Zugang. Alex Helg war erst vergangene Woche auf einem Kontrollgang bei gesperrtem Gleis kurz in der Kabine, wie er sagt. Er habe sie komplett leer angetroffen, ohne Spuren von nächtlichen Gästen oder von Tieren, die sich darin verirrt hätten, und auch ohne neue Sprayereien.
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