Thalwiler Graffitikunst in Tschernobyl
Ein Film dokumentiert die abenteuerliche Reise zweier Thalwiler Graffitikünstler nach Tschernobyl. Am Ort, wo sich vor 30 Jahren die schlimmste Nuklearkatastrophe aller Zeiten ereignete, sprayten sie drei Kunstwerke.
Post-apokalyptische Motive kennzeichnen das Werk des Thalwiler Streetart-Kollektivs Bane und Pest. Fabian Florin, alias Bane, und Yiannis Hadjipanayis, alias Pest, gestalteten schon rund um den ganzen Erdball haushohe Graffitikunst. Ihre Reisen abseits der Touristenpfade hätten ihnen vor Augen geführt, wie schlecht es um die Welt stehe, erzählt Florin.
«Der krasse Kontrast zur Schweiz hat uns die Augen geöffnet», sagt der Graffitikünstler. Ihre neuesten Werke prangern den sorglosen Umgang mit der Natur an. Und wo liesse sich die Thematik besser auf den Punkt bringen, als an dem Ort, wo sich vor 30 Jahren die schlimmste Nuklearkatastrophe der Geschichte ereignete? Hier sollte das nächste Werk von Bane und Pest entstehen, entschlossen die Thalwiler.
Ort des Versagens
Eine unsichtbare radioaktive Wolke zog im April 1986, vor drei Jahrzehnten, über Europa. Der Super-GAU von Tschernobyl veränderte die Welt. Mehr als 100 000 Menschen mussten umgesiedelt werden, die Stadt Prypiat, rund drei Kilometer nordwestlich des AKWs gelegen, musste vollständig evakuiert werden. Mit 70 Spraydosen, sprich 50 Kilogramm Farbe im Gepäck, und begleitet von einer Gruppe Filmer reisten Florin und Hadjipanayis auf dem Landweg nach Prypiat. Zum Ort, der, in den Worten Florins, «von Menschenhand zerstört wurde». Ein Ort, der wegen menschlichen Versagens nicht mehr bewohnbar sei.
Totale Stille
Und was sie dort fanden, verschlug ihnen den Atem: «Wir erlebten die totale Stille in einer urbanen Landschaft», schildert Bane das Betreten der Sperrzone. Rund zweitausend militärisch bewachte Quadratkilometer überzogen von Birken- und Nadelbaumwäldern gelten als Sperrgebiet. Einige verlassene Hochhäuser überragen die Baumwipfel und dominant sticht ein halbmondförmiger weisser Bau hervor: der Sarkophag, das grösste mobile Bauwerk der Welt. Die Schutzhülle umschliesst die Atomruine.
Kein Verkehrslärm, kaum ein Geräusch habe die Stille durchbrochen. «Wir konnten unseren eigenen Herzschlag hören.» Die Natur hat sich den von Menschen verlassenen Raum zurückerobert; durch Hausdächer wachsen Bäume, Wildtiere wie Bären und Wölfe sind zurückgekehrt. Diesen Aspekt inspirierte die Thalwiler zu den drei Graffitis, die sie an prominenten Häusern in Reaktornähe erstellten: sie widmeten sie der Natur. Genauer gesagt, den drei Wildtieren, die in das Gebiet zurückkehrten, nachdem die Zweibeiner es verliessen. Statt Gesellschaftskritik zu üben, beschlossen sie vor Ort, die Schönheit der Natur mit der Kunst zu unterstreichen.
Sieben Tage mit Geigerzähler
Begleitet wurden Bane und Pest vom ständigen Knattern des Geigenzählers. Jeden Abend mussten die Künstler die Sperrzone einen Strahlencheck passieren. Sorgen machten sie sich nicht: «Wir haben uns im Vorfeld erkundigt; ist man vorsichtig, übersteigt die Strahlenbelastung kaum je diejenige von sechs Röntgengangen in einer Woche», sagt Bane. Nur einmal habe ein Schuh ausgeschlagen, doch kaum abgewaschen, war der Strahlenwert wieder im grünen Bereich. Nach sieben Tagen in Prypiat waren die legalen Graffiti fertiggestellt. Eine kurze Zeit dafür, dass das Projekt schon ein halbes Jahr zuvor begonnen hatte. Viele Hürden mussten Bane und Pest im Vorfeld überwinden: eine Bewilligung erhalten, um in der Sperrzone legal sprayen zu dürfen, Gönner finden und schliesslich die Spraydosen ohne horrende Einfuhrzölle in die Ukraine schleusen. Doch davon liessen sich die Künstler nicht abschrecken.
Eine Reise, die nachhallt: «Seit wir in Tschernobyl waren, merke ich, dass ich einen bewussteren Umgang mit der in unserer Gesellschaft verwurzelten Konsumwut und Komfortsucht habe», sagt der Künstler Fabian Florin. Die neuntägige Reise wird im Dokumentarfilm «Recover — Streetart in Chernobyl» Anfang März zum ersten Mal öffentlich vorgeführt, danach ist er in drei Teilen auf Arte kreativ zu sehen. Die Kunstwerke der Thalwiler werden in der verlassenen Stadt aber nicht nur wild streunende Füchse und Bären zu sehen bekommen. Das verstrahlte Gebiet hat eine fast magische Anziehungskraft für Touristen. Täglich kommen bis zu zwei Touristengruppen, um die «Hot Spots» zu besichtigen — so der Übername für besonders strahlenbelastete Stellen in Prypiat.
18. März öffentliche Vorführung «Recover — Streetart in Chernobyl» in Zürich, im Laden Dosendealer, Schaffhauserstrasse 468, Zürich.
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