Doppelinterview im Tennis«Keine Angst, die Schule kannst du auch mit 30 noch nachholen»
Henry Bernet (17) steht am Anfang der Profikarriere, die hinter Marco Chiudinelli (43) liegt. Ein Gespräch über kleine und grosse Träume und den Reiz und die Tücken des Tennis.
Als Henry Bernet im Januar 2007 zur Welt kam, hatte Marco Chiudinelli in Melbourne gerade sein zweites Grand-Slam-Turnier gespielt. Der Basler kletterte in seiner Karriere bis auf Rang 52 und war Teil des siegreichen Davis-Cup-Teams 2014. Mit 36 trat er 2017 an den Swiss Indoors zurück. Inzwischen ist er selbstständiger Unternehmer, veranstaltet Tennis-Camps, ist Experte beim SRF, schreibt Kolumnen und hält Vorträge.
Bernet steht am Anfang, bestritt in diesem Jahr seine ersten Junioren-Grand-Slam-Turniere und sorgte in Basel in der Qualifikation mit seinem Sieg über Fabio Fognini (ATP 77) für Aufsehen. Ein Gespräch zweier Basler in der Player’s Lounge der Swiss Indoors.
Marco Chiudinelli, wenn Sie Henry Bernet erleben, erinnert Sie das an Sie selbst mit 17?
Chiudinelli: Nein. Ich war viel weniger weit mit 17 als er. Ich war erst mit 16 nach Biel ins Leistungszentrum gekommen. Für mich überraschend, denn andere waren besser gewesen als ich. Aber offenbar sahen sie in mir Potenzial. Mit 17 spielte ich mich national langsam nach vorn und bestritt international mein erstes kleineres Turnier. Als ich mich in Florenz qualifizierte, war das für mich ein Riesenerfolg. Ich verlor dann in der ersten Runde. Grand Slams bei den Junioren spielte ich nie. Deshalb ist es kein Vergleich.
Wie ist es für Sie, Henry Bernet, hier in der Player’s Lounge Seite an Seite mit den Stars zu sein? Müssen Sie sich manchmal kneifen?
Bernet: Es ist megacool für mich, die Profis von nah zu erleben und zu sehen, wie sie sich verhalten. Das ist schon anders bei den Junioren. Wenn ich mit den Profis trainiere, merke ich: Alle gehen immer voll. Und die Bälle fliegen nochmals mit einem anderen Spin auf mich zu. Selbst während der Turniere trainieren die Profis noch körperlich. Bei mir war es bisher so: Ich gehe ans Turnier und spiele, dann gehe ich wieder nach Hause und trainiere. Aber da sie die ganze Zeit auf Tour sind, kombinieren sie das.
War diese Woche für Sie wie im Traum?
Bernet: Absolut. Auch, weil ich hier so viele Leute im Publikum kannte. Viele Kollegen fragten mich nach Tickets.
Chiudinelli: Wie viele hast du gekriegt?
Bernet: Zuerst fragte ich, ob ich vier haben könnte. Aber dann trudelten immer wieder Anfragen ein, und ich fragte ständig, ob ich noch ein weiteres Ticket haben könne. Und noch eines. Und noch eines. (lacht) Das war mir fast etwas unangenehm.
Henry Bernet steht am Anfang seiner Profikarriere, die hinter Ihnen liegt. Was können Sie ihm mitgeben aufgrund Ihrer Erfahrung, Marco Chiudinelli?
Chiudinelli: Ich möchte ihm nicht gross reinreden, zumal ich eine hohe Meinung von seinem Coach Kai Stentenbach habe. Ich kenne Henry seit vier Jahren recht gut. Er spielt ja in der Interclub-Mannschaft von TC Old Boys, die ich begleite. Er war mir von Anfang an sympathisch. Er ist offen für Inputs. Das erlebte ich auch schon anders bei Spielern, die nicht so viel Potenzial haben wie er. Die meinen schon in jungen Jahren, sie wüssten es besser. Henry ist gut erzogen, ich kenne auch seine Familie. Er hat ein gutes Umfeld, macht stetig Fortschritte und ist sehr vielseitig auf dem Platz.
Die Tennistour stellt man sich als Glamourwelt vor. Wie war das für Sie?
Chiudinelli: Es kommt darauf an, wie gut du spielst. Je besser du spielst, desto angenehmer ist das Leben. Du verdienst gut, steigst in guten Hotels ab, und die grossen Turniere finden in Grossstädten statt, an coolen Orten. Es gibt gutes Essen, vieles wird einem abgenommen. Aber wenn du nicht so gut spielst, ist es gar nicht mehr glamourös. Das ist das Tolle am Tennis: Wenn du es gut machst, wirst du reich belohnt. Das soll motivieren, den Status zu erreichen, wo das Leben wirklich Spass macht. Vorausgesetzt, man reist gern.
Reisen Sie gern, Henry Bernet?
Bernet: Ich bin auch gern zu Hause, ein paar Wochen am selben Ort. Aber ich hatte nie grosse Mühe mit dem Reisen. Wobei ich, abgesehen von New York, auch noch nie so weit gereist bin. Das wird im Januar lustig, wenn ich erstmals nach Australien fliege, wo auch das Klima ganz anders ist.
Sie bestritten in Paris, Wimbledon und New York Ihre ersten Junioren-Grand-Slams. Hallt das noch nach?
Bernet: Es war eine megacoole Erfahrung und eine grosse Motivation, die grossen Spieler zu erleben. Ich genoss es sehr.
Wovon träumen Sie?
Bernet: Ich träume davon, in die Top 100 zu kommen, vom Tennis zu leben und an den grossen Turnieren mitspielen zu können.
Wovon träumten Sie, Marco Chiudinelli, als Sie sich als kleiner Bub mit Roger Federer stundenlange Duelle lieferten? Von Wimbledon?
Chiudinelli: Roger träumte von Wimbledon. Ich träumte von gar nichts. Mich überraschte ehrlich gesagt, wie weit ich kam. Vielleicht wäre ich noch weiter nach vorn gekommen, wenn ich von Anfang an daran geglaubt hätte. Aber ich begann auch mit 16 erst so richtig intensiv zu trainieren. Jeder ist anders. Einige sagen, sie wollen die Nummer 1 werden. Andere, wie Henry, reden von den Top 100. Das kann man ja mal als Zwischenziel definieren.
Ist Wimbledon auch Ihr Lieblingsturnier, Henry Bernet?
Bernet: Ich freute mich sehr auf Wimbledon. Aber Paris hat mir auch extrem gut gefallen. Sogar noch mehr. Vielleicht, weil es mein erstes Grand-Slam-Turnier war und ich von der Qualifikation bis in den Viertelfinal kam. Und die Plätze waren genial. Ein ganz anderer Sand als der, den ich mir gewohnt war.
Wann wussten Sie, dass Sie Tennisprofi werden wollen?
Bernet: Schon früh. Ich spielte schon mit vier Fussball und Tennis. Ich wollte entweder Fussball- oder Tennisprofi werden. Als ich mit zwölf mit dem Fussball aufhörte, war für mich klar: Ich will im Tennis probieren, wie weit ich es schaffen kann.
Die Schweiz hat in den letzten 30, 35 Jahren viele Erfolge im Tennis gefeiert. Hat Sie das inspiriert?
Bernet: Zur Zeit der grossen Erfolge war ich noch recht jung. Aber ich bekam es schon mit. Es zeigt, was möglich ist, auch wenn man aus einem kleinen Land wie der Schweiz stammt. Aber ich mache mir keine Illusionen: Dafür muss man hart arbeiten.
Tennis ist extrem umkämpft. Wer im Fussball oder im Eishockey in den Top 100 ist, ist ein Star. Welche Charaktereigenschaften braucht es, um dorthin zu kommen, Marco Chiudinelli?
Chiudinelli: Zuerst einmal musst du gut Tennis spielen. Du musst ein guter Athlet sein und den mentalen Kampf mit den anderen aufnehmen, die das auch mitbringen. Du musst herausfinden: Wie kann ich meine Stärken bestmöglich einsetzen und meine Schwächen verstecken? Es gehört auch dazu, dass du gut betreut wirst. Der Verband schickte mich in meinen ersten beiden Profijahren fast nur an Sandturniere. Im November spielte ich noch in Gran Canaria mit den Sandhasen. Ich gewann kaum einen Match und dachte: Okay, ich bin einfach zu schlecht. Keiner sagte mir: Vielleicht solltest du es einmal auf Hartplatz versuchen. Ich hätte fast meine Karriere an den Nagel gehängt, bevor sie richtig begann. Du musst auch einen guten Mentor haben.
Ist es heute professioneller?
Chiudinelli: Es wird stetig professioneller. Nur schon in den sieben Jahren, seit ich aufgehört habe. Die Preisgelder sind mit den Jahren explodiert, womit du dir ein professionelleres Umfeld leisten kannst. Früher konnten nur wenige einen eigenen Physiotherapeuten finanzieren, und wir anderen teilten uns zu 50 den Physio am Turnier. Heute reist mehr als die Hälfte mit eigenem Physio.
Sind Sie schon Profi, Henry Bernet?
Bernet: Ich besuche daneben noch die Schule. Aber wir überlegen uns nun, dass ich die Schule unterbreche. Ich kann ja später wieder einsteigen. Für mich ist klar: Jetzt setze ich ganz klar aufs Tennis.
Chiudinelli: Als ich mit der Schule aufhörte, gab mir das einen rechten Schub. Du musst keine Angst haben, Henry. Wenn du nicht auf den Kopf gefallen bist, ist das kein Problem. Du kannst die Schule auch mit 30 noch nachholen, wenn du willst. Mir hat es fürs Tennis enorm viel gebracht, als ich die Schule abbrach. Dann hatte ich das aus dem Kopf.
Wie ist der Groove auf der Juniorentour?
Bernet: Gut. Wir sind alle Kollegen. Es nimmt mich wunder, wer nun nächstes Jahr explodieren wird, wenn er bei den Grossen spielt. Und wer verschwindet. Das werde ich genau beobachten.
Ist der Schritt vom Junior zum Profi der schwierigste?
Chiudinelli: Für mich war er nicht so schwierig. Aber viele sind daran gescheitert. Ich verlor bei den Junioren gegen viele, aber ein halbes Jahr später hatte ich die meisten hinter mir gelassen und war plötzlich die Nummer 450 der Welt. Und einer, der bei den Junioren die Nummer 4 gewesen war, war weit hinter mir. Dann nützten ihm die Erfolge bei den Junioren auch nichts mehr.
Wie schätzen Sie Henry Bernet ein für sein Alter?
Chiudinelli: Ich bin nicht der Spezialist im U-18-Tennis weltweit. Ich schaute ihm in Paris zwei Matchs lang zu und sah mir auch noch andere Juniorenspiele an. Ich war beeindruckt, wie gut die Jungen spielten. Die prügelten alle wie wild auf den Ball ein und machten kaum Fehler. Aber es wird sehr monoton gespielt. Das gefällt mir bei Henry: Er hat viele Möglichkeiten. Er kann mit der einhändigen Rückhand durchziehen, aber auch mal mit Slice spielen und ans Netz vorstossen. Oder er kann mit mehr Topspin spielen. Mit dieser Variation kann er sich abheben.
Versuchen Sie bewusst, möglichst variabel zu spielen, Henry Bernet?
Bernet: Absolut. Und das macht meine Ausbildung etwas länger. Einer, der nur von der Grundlinie den Ball reinspielt, muss weniger Schläge beherrschen als einer, der versucht, aggressiv ans Netz zu gehen. Das heisst, dass ich auch passend zu meinem Spiel trainieren muss. Klar, man muss schon eine gewisse Stabilität in den Grundschlägen haben. Aber ich muss jetzt auch am Volley arbeiten, am Übergang ans Netz, am Return.
Wie war es für Sie, als plötzlich Artikel über Sie erschienen und Sie im Fernsehen zu sehen waren?
Bernet: Ungewohnt. Meine Nachbarn und meine Freunde verfolgten mich vorher schon, aber jetzt interessieren sich plötzlich mehr Leute für mich. An den Swiss Indoors musste ich erstmals so richtig Autogramme geben. Es fühlt sich cool an. Aber ich bin mir schon bewusst: Ich spiele immer noch bei den Junioren.
Was sind Ihre nächsten Ziele?
Bernet: Bis Ende Jahr spiele ich noch drei Juniorenturniere: Merida, Eddie Herr und die Orange Bowl. Mein Ziel ist, in die Top 20 der Junioren zu kommen. Damit ich nächstes Jahr acht Wildcards für die Qualifikation an Challenger-Turnieren bekomme. Zurzeit bin ich die Nummer 26. Nächstes Jahr möchte ich vermehrt bei den Profis spielen und nur noch die grossen Turniere bei den Junioren. Das wird spannend.
Nach Ihrem Rücktritt 2017 mussten Sie sich als Tennisunternehmer neu erfinden, Marco Chiudinelli. Was gab Ihnen das Tennis, was Sie heute anwenden können?
Chiudinelli: Sehr viel. Wenn ich heute vor Firmen über meine Profikarriere und mein heutiges Leben als Unternehmer spreche, stelle ich viele Gemeinsamkeiten fest. Ich kann praktisch alles aus meiner Aktivzeit brauchen. Disziplin, du musst selbstständig sein, Zusammenhänge erkennen, auf dem Platz musst du lösungsorientiert sein. Du musst teamfähig sein, unter Druck liefern. Du setzt dich ständig mit dir auseinander, musst selbstkritisch sein. Du musst extrem anpassungsfähig und flexibel sein. Das ist alles sehr wertvoll. Und auch die Fähigkeit, immer wieder aufzustehen. Du verlierst fast jede Woche. Das musst du wegstecken können.
Können Sie das auch, Henry Bernet?
Bernet: In diesem Jahr habe ich besser gelernt, mit Niederlagen umzugehen. Oder damit, wenn es nicht so läuft, wie ich mir das vorstelle. Einige Dinge, die Marco aufgezählt hat, kann ich noch nicht so gut. Aber die werde ich schon noch lernen.
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