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Seenotrettung im Mittelmeer
Stummes Entsetzen im Publikum

«Auch wir sind nahe am Wasser gebaut»: Die Slam-Poetin Patti Basler.
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Ein gesunkenes Boot und Dutzende ertrunkener Flüchtlinge im Mittelmeer, das reicht gerade noch für eine Kurzmeldung auf einer hinteren Seite unten rechts. Illegale, gewaltsame Push-backs an den EU-Aussengrenzen, die libysche Küstenwache als Grenzpolizei mit europäischer Genehmigung zu Gewaltanwendung und Menschenrechtsverletzung – es räuspert sich der eine oder andere Völkerrechtler, es hebt eine Migrationsbürokratin die Augenbrauen. Viel mehr passiert nicht.

Gegen diese grosse Gleichgültigkeit fand am Donnerstag im Zürcher Schauspielhaus eine Benefizveranstaltung statt. Organisiert hatte sie SOS Méditerranée, eine NGO, die sich der Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer verschrieben hat.

Vor den rund 200 Zuschauerinnen und Zuschauern traten drei Prominente auf: der Publizist und ehemalige SRG-Generaldirektor Roger de Weck, der seit Frühjahr im sechsköpfigen Vorstand der Schweizer Sektion von SOS Méditerranée sitzt. Der Schriftsteller Franz Hohler. Und die Slam-Poetin und Kabarettistin Patti Basler.

400 Personen auf einem Boot

Am eindrücklichsten war aber das Gespräch mit zwei jungen geflüchteten Männern, Shishai aus Eritrea und Ibrahima aus Guinea. Beide kamen 2015 über das Mittelmeer, beide sind mittlerweile in der Schweiz berufstätig, der eine als Pfleger, der andere als Dolmetscher.

Er verbrachte zwei Wochen in einem libyschen Foltercamp: Shishai aus Eritrea.
«Das Wasser war eiskalt, Frauen und Kinder schrien»: Die Flüchtlinge Ibrahima (links) und Shishai im Gespräch mit dem Journalisten Sebastian Sele und Eva Ostendarp, Leiterin der Aktivitäten von SOS Méditerranée in der Deutschschweiz.

Es herrschte stummes Entsetzen im Publikum, als sie mit leiser Stimme Sätze sagten wie: «Ich habe in den libyschen Flüchtlingslagern gesehen, wie Menschen vergewaltigt und gefoltert wurden.» «Das Wasser war eiskalt, Frauen und Kinder schrien, sie klammerten sich an Autoreifen, aber die Wellen trieben sie vom Boot weg.» «Wir waren 400 auf dem Boot, viele waren im Unterdeck zusammengepfercht. Etwa zehn sind erstickt.» «Wir schafften es, zu unserem Boot zurückzuschwimmen. Um uns herum trieben Leichen. Einige hatte die Bootsschraube zerstückelt.»

«Es geht nicht, Menschen ertrinken zu lassen.»

Roger de Weck

Den Leitsatz des Abends hatte de Weck gleich zu Beginn genannt: «Es geht nicht, Menschen ertrinken zu lassen. Es geht nicht, zu schweigen und untätig zu bleiben.» Rund 1300 Personen sind dieses Jahr beim Versuch ums Leben gekommen, von Afrika übers Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Seit 2014 sind es mehr als 18’000.

Europa, eine Ausländerin

De Weck erinnerte in seiner Rede an einen Text des Schriftstellers Adolf Muschg. Er handelt von der mythologischen Figur Europa, einer jungen Phönizierin, die der höchste griechische Gott Zeus in seiner Verliebtheit von einem Strand im heutigen Libanon nach Kreta entführt. «Europa war eine Ausländerin, unser Kontinent trägt den Namen eines Opfers.»

Die Verbundenheit mit den heutigen Opfern globaler Ungleichheit sollte für diesen Kontinent selbstverständlich sein, sagte de Weck und nannte es eine Absurdität, in einem Land wie der Schweiz überhaupt ein Plädoyer für Menschlichkeit halten zu müssen. Eigentlich seien es die Staaten, die Flüchtlinge vor dem Ertrinken retten müssten, nicht private Organisationen wie SOS Méditerranée.

Franz Hohler, zwischen dessen Beiträgen die Cellistin Chiara Enderle Samatanga kurze Stücke spielte, liess das Alltägliche mit dem Verstörenden kollidieren, das Surreale unvermutet in die Realität einbrechen und die Grenzen zwischen den beiden Kategorien verschwimmen. Etwa so, wie er es in vielen Erzählungen und Romanen tut.

«Es gibt nur eines: Grosszügigkeit.»

Franz Hohler

Ein Wanderer, erzählte Hohler, geht auf Wander- und Höhenwegen einher, durchquert Waldpfade, lässt ein Maiensäss hinter sich, erreicht einen einsamen Schweizer Bergsee – und sieht plötzlich ein Flüchtlingsboot auf sich zutreiben, dessen dunkelhäutige Passagiere ihm verzweifelt ein Tau zuwerfen. «Flüchtlinge machen uns Angst, dabei sind sie es, die Grund haben, sich zu ängstigen», sagte Hohler. «Flüchtlinge stören unseren Normalbetrieb.»

Das Boot ist voll, jener unselige Satz, mit dem die Schweiz es damals gerechtfertigt habe, Juden zurückzuweisen – er dürfe nicht noch einmal unser Leitsatz sein, sagte Hohler. «Es gibt nur eines: Grosszügigkeit.»

Chiara Enderle Samatanga und Franz Hohler.

Schöne Sätze, wahre Sätze, idealistische Sätze. Aber dürfen alle, die in Europa leben wollen, auch nach Europa kommen? Hat ein Staat das Recht, Migranten abzuweisen, und falls ja, nach welchen Kriterien? Treibt eine betont migrationsfreundliche Politik nicht Hunderttausende in die Fänge der AfD, begünstigt sie nicht Matteo Salvini, Viktor Orban, Éric Zemmour? Und hat Migration auch problematische Folgen, von denen das privilegierte Publikum im Pfauen unbehelligt bleibt?

Auch das wären interessante Fragen gewesen, aber zugegeben: An der Benefiz-Gala einer Seenotrettungsorganisation hätten sie wohl viele als unpassend, wenn nicht als anstössig empfunden. Sie blieben unbeantwortet. In einem Gespräch vor der Veranstaltung sagte de Weck: «Wenn alles komplex ist, muss man sich auf das Wesentliche konzentrieren. Und das ist in diesem Fall die Rettung von Menschenleben.» Im Frühling werde er sich selber an einem Einsatz beteiligen.

Patti Basler absolvierte einen ausdrucksstarken verbalen Parforceritt. Vom Elend der Flüchtlinge über Luxusprobleme bei Neubenennungen von Schoko-Eiweiss-Schaum-Süssspeisen: «Skinhead würde passen, einfach mit umgekehrten Farben: weisse Schokolade aussen und brauner Mist innen.» Von der typischen Fingerbewegung der Digital Natives über die Angst vor der Islamisierung bis zum Klagelied der geschundenen Mutter Erde. Und all dies, ohne dass das Ganze auseinanderfiel. Auch wir seien nahe am Wasser gebaut: «Beim ‹Titanic›-Film oder wenn unser Luxusdampfer einen Eisberg rammt. Oder ‹völlig unerwartet› auf einen heftigen Corona-Wellengang trifft.»

«Ein bisschen Charity – damit ist der Ablass gewährleistet. Aber es lohnt sich trotzdem.»

Patti Basler

Zwei Tage vor dem Anlass im Schauspielhaus sagt Basler, vielleicht mache sie auch deshalb mit, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. «Wir alle profitieren von diesem System der Ausbeutung und Ungleichheit. Ein bisschen Charity, ein wenig gemeinnützige Arbeit – damit ist der Ablass gewährleistet.» Und was schliesst sie daraus? Wenn sie dazu beitragen könne, ein Leben zu retten, antwortet Basler, lohne es sich trotzdem.