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Stärkung der Frauenrechte
74 Täter kommen vorzeitig aus der Haft – jetzt ändert Spanien sein Sexualstrafrecht wieder

Das sogenannte «Nur Ja heisst Ja»-Gesetz hat zu Haftentlassungen und zu Reduzierungen der Haftdauer in über 700 Fällen geführt. Demonstration am Internationalen Tag der Frau 2022 in Spanien.  
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Spanien wird das erst im Oktober in Kraft getretene Gesetz zur Neuregelung des Sexualstrafrechts wieder ändern. Das hat das Parlament nach einer hitzigen Debatte am Dienstagabend beschlossen.

Mit der Abstimmung im Parlament dürfte ein monatelanger Streit vorerst zu Ende gehen – er wird in der Regierungskoalition allerdings Wunden hinterlassen. Denn die sozialistische Partei PSOE, der auch Ministerpräsident Pedro Sánchez angehört, stellte sich bei der Abstimmung gegen den eigenen Koalitionspartner: die linke Partei Podemos, die das Gesetz initiiert hatte.

Das sogenannte «Nur Ja heisst Ja»-Gesetz, das völlig unerwartet zur vorzeitigen Haftentlassung von bisher mehr als 70 Sexualverbrechern geführt hat, löste innerhalb der Koalition neun Monate vor den Parlamentswahlen eine heftige Krise aus. Zudem nutzten Anwälte einsitzender Sexualverbrecher Lücken in dem im Oktober in Kraft getretenen Regelwerk aus und erreichten in mehr als 700 Fällen Reduzierungen der Haftstrafen.

231 Abgeordnete stimmten für den Reformvorschlag, nur 56 dagegen

«Wir haben Ihre Tiraden satt», sagte Andrea Fernández Benéitez (PSOE) bei der Debatte in Richtung von Podemos. Das Gesetz funktioniere nicht, wie es solle, deshalb müsse man es reformieren. Das schulde man den Opfern sowie allen Spanierinnen und Spaniern.

Podemos hielt dagegen: Das Prinzip der Zustimmung müsse bleiben, sagte Lucía Munoz Dalda: Das sei die Forderung Tausender Frauen gewesen, die auf der Strasse dafür protestiert hätten.

Es war eine emotionale Diskussion, die live im Internet übertragen wurde. Das Ergebnis war eindeutig: 231 Abgeordnete stimmten für den Reformvorschlag von PSOE, darunter die konservative Partei PP. 56 stimmten dagegen, darunter geschlossen Podemos, 58 enthielten sich. Gleichstellungsministerin Irene Montero (Podemos) bezeichnete das Ergebnis der Abstimmung als «schlechte Nachricht für die Frauen des Landes».

Cuca Gamarra (PP) gab Ministerpräsident Pedro Sánchez die Schuld an den unerwünschten Konsequenzen: Die Regierung sei vor Inkrafttreten des Gesetzes gewarnt worden, dass als Konsequenz die Strafen reduziert werden könnten.

Wurde die Regierung vor den unerwünschten Folgen des Gesetzes gewarnt? Der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez während eines Events zum Internationalen Frauentag in Madrid. (4. März 2023)

Die Vertreterin der rechten Partei Vox sprach von einem «irreparablen Schaden», den das Gesetz angerichtet habe. Mehrere Abgeordnete stellten sich in der Debatte auch hinter «Nur Ja heisst Ja»: Es sei ein wichtiges Gesetz, das international Beachtung gefunden habe. Viele Sprecherinnen und Sprecher kritisierten die Richter, die ja die Entscheidungen getroffen hatten, in den einzelnen Fällen das Strafmass zu reduzieren.

Beide Regierungsparteien verfolgen eigentlich das gleiche Ziel

Der Vorschlag von PSOE sieht vor, das Strafmass in vielen Fällen auf 15 Jahre Haft anzuheben. Ein Kriterium bei der Beurteilung soll sein, ob es bei sexuellen Übergriffen zu Gewalt oder Einschüchterung kam. Diese Unterscheidung aufzuheben, war allerdings eigentlich das Ziel des neuen Gesetzes gewesen.

«Wir wollen keine Rückkehr zu einem patriarchalischen System, in dem man als Opfer gefragt wurde, ob man die Beine richtig geschlossen hatte», hatte Gleichstellungsministerin Irene Montero erklärt. Mit «Nur Ja heisst Ja» müssten Frauen künftig nicht mehr beweisen, dass sie Gewalt oder Einschüchterung erlebt haben.

Sexuelle Handlungen sollten nur noch dann als einvernehmlich gelten, wenn alle Beteiligten ihnen zustimmen oder durch aktive Beteiligung Zustimmung signalisieren. Sexualisierte Übergriffe gegen den Willen einer Frau würden auch dann als Vergewaltigung gewertet, wenn diese sich nicht aktiv wehrt oder verbal widerspricht. Hintergrund ist, dass Vergewaltigungsopfer oft aus Angst oder im Schock stillhalten und schweigen.

Zum Problem ist geworden, dass die Regierung im Zuge der Reform auch das Strafmass für die Vergehen angepasst hatte. Das Mindeststrafmass wurde abgesenkt, das Maximalstrafmass in Teilen angehoben, der Spielraum der Richterinnen und Richter für Strafen wurde also grösser.

In Spanien können Fälle nach einer Gesetzesänderung, die zum Vorteil der Verurteilten führen können, vor Gericht neu aufgerollt werden. Also stellten mehrere Straftäter Anträge auf Wiederaufnahme ihrer Verfahren. Etliche Richter nutzten die Möglichkeit, sich in bestimmten Fällen in Richtung der niedrigeren Mindeststrafe zu orientieren.

Podemos warnte vor einem «Verrat am Feminismus»

Seit Oktober ist bei mindestens 721 Straftätern das Strafmass reduziert worden, 74 sind bereits aus dem Gefängnis entlassen worden, das zeigen die jüngsten Zahlen des Generalrats der rechtsprechenden Gewalt (CGPJ).

Diese Strafminderungen wollten eigentlich sowohl PSOE als auch Podemos verhindern. Es geht bei der komplexen Debatte tief in juristische Feinheiten. Klar ist: Man wurde sich nicht einig, nach welchen Kriterien das Strafmass künftig bemessen werden soll.

Podemos hatte bereits im Vorfeld der Debatte am Dienstag gewarnt, für den Reformvorschlag zu stimmen, wäre «ein Verrat am Feminismus». Bei der Debatte selbst sprach Ministerpräsident Sánchez nicht, er hatte aber im Vorfeld der Debatte der Zeitung El País zufolge gesagt: «Wir haben versucht, eine Einigung zu erzielen, aber es war nicht möglich.»

Es ist das erste Mal, dass die beiden Parteien der Koalition entgegengesetzt abstimmen. Die Diskussion fand vor dem Internationalen Frauentag am 8. März statt, an dem in Spanien traditionell im ganzen Land Demonstrationen für Frauenrechte stattfinden. Und: Sie findet im Wahljahr statt: im Mai sind Regional- und Kommunalwahlen, Ende des Jahres Parlamentswahlen.

Zuletzt hatte die Regierung eine Reihe von Neuerungen beschlossen, die die Rechte von Frauen stärken. Am Samstag kündigte Ministerpräsident Sánchez ein Gesetz an, das einen Anteil von mindestens 40 Prozent Frauen in der Regierung und in den Vorständen grosser Unternehmen garantieren soll. Als erstes Land in Europa räumt Spanien künftig zudem Frauen die Möglichkeit ein, bei Menstruationsbeschwerden Krankheitstage zu nehmen. Zugleich beschloss das Parlament Mitte Februar auch die Möglichkeiten zur Abtreibung zu verbessern.