Attacke auf die ZivilgesellschaftOrban hat eine perfide Methode gefunden, um Kritiker zu drangsalieren
Mit dem sogenannten Souveränitätsgesetz hat Ungarns Regierung einen modernen Pranger errichtet, um politische Gegner mundtot zu machen. Was das für die Betroffenen bedeutet.
- Ungarns neues Gesetz erlaubt weitreichende Ermittlungen gegen NGOs und Medien.
- Das Amt für Souveränitätsschutz untersucht Einflüsse aus dem Ausland auf Ungarn.
- Transparency International vermutet Rache für Kritik an chinesischen Krediten.
- Die EU-Kommission hat Ungarn verklagt.
Auf die Frage, ob er ein Foto von seinem Team schicken könne, zögert Tamás Bodoky, preisgekrönter Journalist und Chefredaktor der Investigativplattform Átlátszó. Manche seiner Kollegen, sagt er, würden mittlerweile nur noch ungern öffentlich in Erscheinung treten. Viele Mitarbeiter und Mitglieder von regierungskritischen Medien, Nichtregierungsorganisationen, Vereinen, kleinen Parteien hätten Angst um ihre Existenz. Nicht jeder sei innerlich bereit, auszuwandern. «Nicht jeder ist ein Freiheitskämpfer.»
Was Bodoky am Telefon aus Budapest da in drastischen Worten schildert, sind einige der psychischen Folgen eines Gesetzes, das die ungarische Regierung im Dezember 2023 vom Parlament beschliessen liess: das «Gesetz zum Schutz der nationalen Souveränität». Die politischen Folgen sind noch gar nicht absehbar.
Ungarns Souveränitätsgesetz ist eine Attacke auf die Zivilgesellschaft
Zum einen ist es Zivilorganisationen verboten, wahlkämpfende Gruppen zu unterstützen und Geld von ausländischen Spendern anzunehmen. Parteien ist es ohnehin untersagt, Geld aus dem Ausland anzunehmen, aber nun wollte die Regierung auch Wahlvereine und Unterstützungskomitees ins Visier nehmen. Die Regierungspartei Fidesz selbst finanziert ihre üppigen Wahlkämpfe übrigens aus Geldern des Staatsapparates und staatsnahen Stiftungen.
Als weit gefährlicher für die Zivilgesellschaft aber entpuppt sich der vage formulierte zweite Teil des Gesetzes: Ein Amt für Souveränitätsschutz (SPO) mit praktisch unbegrenzten Ein- und Durchgriffsmöglichkeiten darf nun NGOs, Medien und andere Organisationen daraufhin untersuchen, ob sie durch ausländische Kräfte beeinflusst seien, um den Wählerwillen zu beeinflussen und die «Souveränität» des Landes zu untergraben, was immer das genau heissen soll.
Regierungschef Orban übernimmt Sprache autoritärer Staaten
Regierungschef Viktor Orban jedenfalls spricht in letzter Zeit verstärkt von Angriffen auf die Souveränität Ungarns und übernimmt damit eine Sprachregelung autoritärer Staaten wie Russland oder China, die sich paradoxerweise regelmässig gegen die «Einmischung in die inneren Angelegenheiten von souveränen Staaten» verwahren, während etwa Moskau diese Einmischung in kriegerischer Form in der Ukraine betreibt. (Lesen Sie zum Thema den Bericht «Blockierte Ukraine-Hilfe: Ein Gefallen für Putin, ein Gefallen für Trump»).
Auch Átlátszó ist davon betroffen; die Ermittlungen laufen. Die Investigativplattform hat sich entschlossen, nicht mit den Behörden zu kooperieren. Denn: Die Vorhaltungen, man betreibe Aktivitäten, die den Wählerwillen beeinflussen sollten – und die als offizieller Grund für die Untersuchung angegeben würden, «betreffen politische Kampagnen auf Parteiebene, damit befassen wir uns nicht», so Bodoky. Brandgefährlich ist die Sache so oder so.
Ungarns neues Gesetz sei «angsteinflössend», sagen Juristen
Das Souveränitätsamt in Budapest hat zwar selbst keine Sanktionsmöglichkeiten, kann aber Steuerunterlagen oder Finanzberichte, interne Kommunikation, Verträge und Kooperationsabkommen einsehen und dann «Berichte» verfassen, die an Finanzämter, Polizei, Geheimdienste oder das Nationale Sicherheitskomitee des Parlaments weitergeleitet werden können und veröffentlicht werden. Eine juristische Handhabe zur Gegenwehr haben die derart Untersuchten nicht.
Das Gesetz, schreibt das renommierte juristische Forum «Verfassungsblog», sei «invasiv» und «angsteinflössend». Eine Behörde mit praktisch uneingeschränkten Möglichkeiten, 80 Mitarbeitern und einem Budget, das laut Tamás Bodoky höher ist als alle ausländischen Förderungen für unabhängige ungarische Medien zusammengerechnet, kann auf diese Weise einen modernen Pranger errichten. Die EU-Kommission hat das Gesetz an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) weitergeleitet, weil es nicht EU-konform sei. Entsprechende Urteile in anderen Fällen hat die ungarische Regierung zuletzt ignoriert.
Ist das Souveränitätsgesetz ein Racheakt der Regierung?
Weitere NGOs neben der Investigativplattform Átlátszó, die auf Korruptionsthemen spezialisiert ist, sind, soweit bekannt, bereits im Visier des SPO, darunter die Antikorruptionsorganisation Transparency International Ungarn (TI) und der Umweltschutz-Verein Göd-ÉRT Association in der Kleinstadt Göd, der gegen die ökologische Belastung der Natur durch eine Batteriefabrik von Samsung geklagt und im Frühjahr erfolgreich für Lokalwahlen kandidiert hatte.
Transparency International ging nach Veröffentlichung des SPO-Berichts empört an die Öffentlichkeit. Die Ermittlungen seien vermutlich ein Racheakt, so Miklós Ligeti von TI, weil die Organisation chinesische Kredite für den ungarischen Staat kritisch hinterfragt habe. Aus der Stellungnahme von Transparency International ist Bitterkeit über Orbans Methoden herauszuhören, der mit zunehmend repressiven Methoden die Meinungsfreiheit unterdrückt und politische Gegner schikaniert: Damit würden selbst Verschwörungstheorien aus der kommunistischen Ära noch in den Schatten gestellt.
Bei der Investigativplattform Átlátszó war der Anschlag auf die eigene Existenz erwartet worden, nachdem eine regierungsnahe NGO, die regelmässig Pro-Orban-Demonstrationen organisiert, eine Untersuchung gegen das Medium gefordert hatte.
Átlátszó-Chefredaktor Bodoky: Wir hatten leider recht
Nachdem die Medienplattform die Kooperation verweigert hatte, kam im August ein zweiter Brief; diesmal ging es um die Zusammenarbeit mit der Umweltschutzinitiative in Göd und eine Förderung durch die EU. «Wir hatten die Kollegen von der Göd-ÉRT Association gewarnt, die hielten uns für paranoid. Jetzt sagen sie: Ihr hattet leider recht», sagt Átlátszó-Chefredaktor Bodoky.
Wie es weitergeht, ist unklar, aber die Unsicherheit ist gross – in der gesamten Medienbranche, bei Bürgerinitiativen, regierungskritischen Organisationen. Kooperationen würden gekappt, Projekte gestoppt, Pläne revidiert, sagt Bodoky. Er habe schon eine grosse Attacke des Propaganda-Apparats von Fidesz hinter sich, als sein Blatt korrupte Regierungspolitiker blossstellte: «Ich war wochenlang der Oberverbrecher des Landes.» Damals habe er geglaubt, es könne nicht mehr schlimmer werden. «Jetzt wissen wir: Jeder kann der Nächste sein.»
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