Nordirland-Konflikt flammt wieder aufSogar Kinder schleudern Brandbomben
Nach den Krawallen über Ostern in Nordirland fragt man sich dort, ob die Lage in den nächsten Wochen eskalieren wird. Immer mehr Protestanten der Provinz fühlen sich seit dem Brexit von London verraten. Steht ein Sommer schwerer Unruhen bevor?
Besorgt blickt man in Nordirland einem Sommer mit möglichen Unruhen entgegen. Denn bereits die Ostertage waren in der Provinz vielerorts von Krawallen überschattet. Mehrere Nächte lang zogen Gruppen junger Protestanten in ihren Vierteln auf die Strassen, um dort Feuer zu entfachen und mit Steinen, Flaschen und Brandbomben gegen die Polizei vorzugehen. (Lesen Sie hier eine Zusammenfassung des Nordirland-Konflikts.)
32 Polizisten wurden bei diesen Zusammenstössen verletzt, einige davon erheblich. Zahlreiche Fahrzeuge gingen in Flammen auf. In loyalistischen Hochburgen wie Portadown und Markethill zogen vermummte Gestalten auf ungenehmigten Kundgebungen trommelnd, flötend und fahnenschwenkend durch die Strassen. In Derrys Waterside und in Newtownabbey und Carrickfergus nahe Belfast wurden Brandsätze und Backsteine geschleudert und Polizeibeamte attackiert.
Attacken «eindeutig orchestriert»
Unter den Teilnehmern an den Krawallen befanden sich nach Polizeiangaben Kinder im Alter von 12 und 13 Jahren. Die Attacken seien «eindeutig orchestriert» gewesen, klagte Davy Beck, einer der Einsatzleiter der Polizei. «Eine kleine Gruppe frustrierter krimineller Elemente» habe die jungen Leute offenkundig aufgehetzt.
Nordirlands unionistische Regierungschefin Arlene Foster appellierte an Kinder und Jugendliche, sich «nicht in diese Unruhen ziehen zu lassen». Die Justizministerin ihrer Regierung, Naomi Long, die der um Ausgleich bemühten kleinen Alliance Party angehört, warnte vor einer Eskalation der Gewalt im Blick auf die Sommersaison der traditionellen pro- und antibritischen Märsche in Nordirland: «Das muss aufhören, bevor es Leben kosten wird.»
Spektakuläres Begräbnis löst Krawalle aus
Unmittelbarer Anlass des Osteraufruhrs in den militantesten Protestantenvierteln war die umstrittene Entscheidung der Belfaster Staatsanwaltschaft von voriger Woche, keine Anklage gegen 24 prominente Republikaner zu erheben, die im Juni letzten Jahres eine spektakuläre Begräbnisfeier für einen Sinn-Fein-Veteranen organisiert und an ihr teilgenommen hatten.
Insgesamt nahmen damals 2000 Republikaner am Leichenzug teil, darunter Top-Sinn-Fein-Figuren wie Nordirlands Vize-Regierungschefin Michelle O’Neill – obwohl den Covid-Regeln zufolge höchstens 30 Personen hätten zugegen sein dürfen. Viele Loyalisten deuteten den nun verkündeten Verzicht auf Strafverfolgung als Zeichen dafür, dass auf «die andere Seite» immer mehr Rücksicht genommen werde. Die Polizei habe im vorigen Sommer schon mal gar keine Anstalten gemacht, den Republikaner-Aufmarsch zu stoppen, meinen sie.
Brexit schafft beträchtliche Probleme für Nordiren
Das Ressentiment geht allerdings tiefer. Der britische Austritt aus der EU hat beträchtliche Probleme für Nordiren geschaffen, die sich Grossbritannien zugehörig fühlen – und die nun befürchten, dass sich post Brexit der Abstand weitet zum Rest des Vereinigten Königreichs. Immerhin willigte Tory-Premier Boris Johnson beim Brexit ein in den Verbleib Nordirlands im Zollgebiet der EU, was faktisch Grenzkontrollen zwischen Grossbritannien und Nordirland erforderlich macht.
Nachdem Johnson die Notwendigkeit solcher Kontrollen anfangs schlicht leugnete, beginnen sich nunmehr zahllose Probleme abzuzeichnen. Das sogenannte Nordirland-Protokoll, das die Kontrollen festschreibt und Teil des Brexit-Vertrages ist, steht im Zentrum dieses Streits. Sowohl Unionistenchefin Foster wie die Führer aller loyalistischer Verbände im Protestanten-Lager fordern nunmehr Londons einseitige Abkehr von diesem Protokoll. Das Protokoll freilich ist Voraussetzung für freien Verkehr im Bereich der gesamten Grünen Insel – wie es das Belfaster Abkommen von 1998, der sogenannte Karfreitagsvertrag, vorsieht, das Nordirland fast ein Vierteljahrhundert Frieden beschert hat.
«Es gibt da viel echte Wut, ein wirkliches Gefühl von Frustration.»
Von der Brexit-Regelung, die Johnson getroffen hat, fühle sich jetzt jedenfalls eine Grosszahl von Loyalisten verraten, erklärte der Nordirland-Spezialist Peter Shirlow am Dienstag dem Londoner «Guardian». «Es gibt da viel echte Wut, ein wirkliches Gefühl von Frustration.» Gerade die Jüngeren hätten kein Verständnis für das, was sie als «ewige Zugeständnisse» an die irisch-katholische Seite sähen: «Ständig bekommen sie zu hören, dass die andere Seite gewinnt.»
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