Zikaden in den USASie schlummerten 17 Jahre im Dunkeln – nun beginnt die Invasion
Im Osten der Vereinigten Staaten lebte eine bestimmte Art von Insekten während fast zwei Jahrzehnten im Boden. Nun krabbeln Milliarden der Tiere ans Licht. Für Gesang, Sex – und für das Leben.
Was die Menschen angeht, ist der Frühling in Washington ja schon seit ein paar Wochen da. Er stellte sich zur gleichen Zeit ein wie die vielen Impftermine, die es plötzlich überall gab. Nun sind die Restaurants wieder ausgebucht, an der 14th Street sitzen die Leute schon nachmittags vor Martinis und Kübeln mit Bier, die Touristen sind auf die Mall zurückgekehrt, und das Baseball-Team darf schon bald wieder vor vollen Rängen spielen, 40’000 Zuschauer. Go Nats!
Doch es sind eben nicht nur die Menschen, die gerade erwachen. Im Boden wartet eine andere Spezies seit langer Zeit darauf, ihren eigenen Lockdown zu beenden, es könnte jetzt jeden Tag soweit sein. Ein Grad wärmer noch, vielleicht zwei, dann geht es los. Seit exakt 17 Jahren sitzen die Zikaden der sogenannten Brut X im Untergrund, ohne Netflix, Sauerteigbrot und Video-Calls. Sie schlummerten im Dunkeln, sie schlürften den Saft aus den Wurzeln der Pflanzen, und nun graben sie sich hinauf. Hat die Sonne den Boden auf 18 Grad erwärmt – erst dann –, krabbeln sie hinaus ans Licht. Für Gesang, Sex – für das Leben.
Es gibt weltweit Zigtausende Zikadenarten, sie bevölkern von den Küsten des Mittelmeers bis zum Dschungel des Amazonas einen Grossteil der Erde. Doch nur im Osten der USA gibt es neben den gewöhnlichen auch die periodischen Zikaden, die einem ganz besonderen Lebenszyklus folgen. Manche treten nur alle 13 Jahre auf, eine bestimmte Art kommt sogar nur alle 17 Jahre: die Brut X (das X steht für die römische Ziffer Zehn). Man wird die Brut X bald in 15 Bundesstaaten sehen, aber ihr Epizentrum ist die Gegend um die Hauptstadt Washington.
Warum es genau 17 Jahre sind, können die Wissenschaftler bis heute nicht mit Sicherheit sagen. Das letzte Mal, als die Zikaden an die Oberfläche krochen, führte George W. Bush Krieg im Irak, das iPhone war noch nicht erfunden, im Kino schauten die Amerikaner «Shrek 2», und Donald Trump stand kurz vor seinem dritten Bankrott. Das war 2004. Die Zikaden, die sich jetzt für ihre Invasion bereit machen, sind die Nachkommen der Tiere, die in jenen Frühlingstagen ihre Eier legten.
Gigantische Schwärme
Sind die Zikaden erst einmal da, wird es vor ihnen kein Entkommen geben. Sie treten in gigantischen Schwärmen auf: Auf die Fläche eines halben Fussballfelds sollen im Schnitt eineinhalb Millionen Insekten kommen. Die Menschen in Washington blicken ihnen mit einer Mischung aus Grusel und Neugier entgegen – und mit einer Angst vor schlaflosen Nächten.
Die männlichen Zikaden singen, um Weibchen anzulocken – und um sich fortzupflanzen. Der Insektenkundler Doug Yanega von der University of California sagt: «Was sie da betreiben, ist eine der grössten Orgien der Natur.» Der Gesang einer einzigen Zikade kann um die 90 Dezibel laut werden, ähnlich wie ein Rasenmäher.
Die Insekten erinnerten die früheren europäischen Kolonisten an die biblischen Geschichten über Heuschreckenplagen. Doch an den meisten Bäumen und Sträuchern richten die Zikaden keinen Schaden an, und vielen anderen Tieren dienen sie als All-you-can-eat-Buffet. Aber eben: Sie sind laut. Sehr laut.
Kurz nach der Paarung sterben die Zikaden. Die Larven, die aus den Eiern schlüpfen, fallen zu Boden und vergraben sich in der Erde. Dort warten sie, 17 Jahre lang, bis zum Jahr 2038. Wie die Welt dann wohl aussieht?
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