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Die Schweiz und die Italianità
Sie rückten die Schweiz näher an den Süden

Italienisches Essen: Rudi Bindella senior hat daraus ein Geschäftsmodell gemacht.
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Dieser Text erschien erstmals am 4. August 2023.

Rudi Bindella – der Sohn des ersten Pizzaiolo

Skulpturen im Treppenhaus, etruskische Vasen im Sitzungszimmer: Rudi Bindella umgibt sich gern mit schönen Dingen – und Italien ist für ihn das Land der schönen Dinge. «Le cose belle, das ist das eine», sagt er. «Das andere ist die Lebensfreude.»

Die Bindellas haben aus der Italien-Sehnsucht ein Geschäftsmodell gemacht: In ihren Restaurants wird Italianità zelebriert. Wer anruft, hört «Lasciatemi cantare», der Werbeslogan lautet «La vita è bella». Nicht nur das Essen müsse stimmen, sagt der 75-jährige Patron, auch das Ambiente. «Man muss die Details pflegen.»

Sind die guten Restaurants in Italien nicht jene mit dem grellsten Licht? «Doch, natürlich.» Bindella lacht. «Die mit den Neonröhren, dem violetten Insektengrill und dem lauten Fernseher.» Aber dort sei das egal. «Ich glaube, es liegt daran, dass sonst so viel da ist: das warme Sonnenlicht, die Geselligkeit, die Herzlichkeit.»

In den 50er- und 60er-Jahren, als viele Italiener in die Schweiz kamen, hielt sich die Begeisterung für das Mediterrane in Grenzen. Nur knapp wurde 1970 die Schwarzenbach-Initiative gegen die «Überfremdung» abgelehnt. Rudi Bindella gehörte damals zu einer Studentenband, die ein Lied gegen die Initiative dichtete. Heute sagt er: «Die Italiener brachten halt eine andere Kultur, das passte nicht allen.»

Seine Familie – sie hat spanische und italienische Wurzeln – ist bereits im 19. Jahrhundert eingewandert. Italienisch lernte Rudi Bindella als Kind vor allem deshalb, weil die Haushaltshilfe so sprach. Sein Vater betrieb ein Gipsereigeschäft. Bis ein neapolitanischer Freund ihn auf die Idee brachte, daneben in die Gastronomie einzusteigen. 1965 eröffnete die Familie die erste Holzofenpizzeria in Zürich: das Santa Lucia. 

Pizza? Das kannte man damals in der Schweiz nicht. Zwar hatte es in den 50er-Jahren schon eine Pizzeria gegeben. Dort trafen sich aber vor allem Gastarbeiter. Auch das Santa Lucia lief in den ersten Jahren nicht besonders gut. Erst allmählich seien die Schweizerinnen und Schweizer auf den Geschmack gekommen, erzählt Bindella. Vor allem jene, die in Italien ihre Ferien verbrachten. In Rimini zum Beispiel.

Die NZZ bekam den Trend mit und bezeichnete Pizza als das südländische Pendant zur einheimischen Wähe. Die «Schweizer Illustrierte» druckte sogar ein Rezept ab. Eines mit Blätterteig.

Als das Santa Lucia schliesslich lief, glaubten viele, dass das Interesse nicht lange anhalten würde. Heute betreiben die Bindellas 45 Restaurants. «Jedes Kind isst am liebsten Pasta und Pizza», sagt der Patron. «Und niemand sagt mehr ‹Wir gehen italienisch essen›.» 

Die italienischen Gerichte sind selbstverständlich geworden.

Rosanna Ambrosi – die Unbequeme

Rosanna Ambrosi setzte sich ein Leben lang für die weniger Privilegierten ein. Zum Beispiel für die Kinder der Saisonniers. 

Rosanna Ambrosi kam 1964 der Liebe wegen in die Schweiz. Sie war damals 20 Jahre alt. Mit 15 hatte sie in Padua einen Mann kennen gelernt, der in die Schweiz auswanderte, um als Bautechniker zu arbeiten. Fünf Jahre lang schrieben sich die beiden Briefe, dann zog sie in die Schweiz. Das Paar heiratete und bekam zwei Söhne. 

Heute ist Ambrosi 78 Jahre alt. «Es war ein gutes Leben», sagt sie. «Ich war privilegiert. Wir wohnten mitten in Zürich. Andere hausten in Baracken.»

Ambrosi setzte sich ein Leben lang für die weniger Privilegierten ein. Von Anfang an engagierte sie sich in der Federazione delle Colonie Libere Italiane, dem grössten Verein für Emigranten. Bald merkte sie, dass Frauen dort keinen Platz hatten. «Es war eine reine Männerorganisation. Grässlich.» Gemeinsam mit anderen Frauen organisierte Ambrosi deshalb einen Frauenkongress. 

Später kämpfte sie für die Kinder der Einwanderer. «Sie wurden behandelt, als wären sie dumm. Dabei hatten sie nur Sprachprobleme.» Ambrosi und ihre Mitstreiterinnen organisierten Elternkomitees und erreichten zum Beispiel, dass bei Elterngesprächen in der Schule Übersetzer dabei waren. Kinder von Saisonniers – Arbeitern ohne Jahresaufenthaltsbewilligung – hatten noch ganz andere Probleme: Sie durften eigentlich gar nicht in der Schweiz sein. Ambrosi findet ein deutliches Wort dafür: «Porcheria.» Eine Sauerei. Arbeiter ohne Familie kommen zu lassen, sei unverschämt. 

«Man hat im Lauf der Jahre beschlossen, die Italiener zu schätzen.»

Manche Kinder wuchsen deshalb ohne Eltern auf, meist bei den Grosseltern in Italien. Andere mussten sich in der Schweiz verstecken. Vor zwanzig Jahren hat Ambrosi ein Buch über Italienerinnen mit solchen Erfahrungen geschrieben. Eine Frau schildert ihre Zeit als verstecktes Kind so: «Ich durfte mich nicht am Fenster zeigen, durfte kein Radio hören, keine Musik und keinen Lärm machen.» 

Ambrosi schüttelt den Kopf. «Und so etwas in der reichen Schweiz!» Es macht sie heute noch wütend. Genauso wie die Schwarzenbach-Initiative. «Viele hatten Angst. Ich kannte Leute, die noch vor der Abstimmung nach Italien zurückkehrten.» Ambrosi hat sich irgendwann einbürgern lassen. «So kann man mich nicht fortjagen, selbst wenn ich schimpfe.» 

Dass sie in die Schweiz gekommen ist, hat Rosanna Ambrosi trotz allem nie bereut. Sie liebt Zürich. Von ihrem Mann hat sie sich zwar nach einigen Jahren getrennt – er sei ein Macho gewesen, sagt sie. Aber sie heiratete wieder. Sie fand Freunde. Sie unterrichtete Italienisch. Deutsch hatte sie nach ihrer Ankunft schnell gelernt, Schweizerdeutsch spricht sie bis heute nicht. Sie wollte es nicht.

In der Schweiz vermisst Ambrosi manchmal die Spontanität. Doch heute sei vieles anders, sagt sie. «Es kamen Menschen aus anderen Ländern. Man hat im Lauf der Jahre beschlossen, die Italiener zu schätzen.»

Ihr Buch über Italienerinnen in der Schweiz widmete Ambrosi all jenen Frauen, die dank ihrer Emigrationserfahrung zur Toleranz gegenüber Menschen unterschiedlicher Herkunft beitragen.

Raimondo Ponte – vom Scugnizzo zum Nationalspieler

Raimondo Ponte im Retrodress von GC an einem Legendenspiel. Der gebürtige Neapolitaner war zu seiner Zeit einer der besten Fussballer der Schweiz.

Als Raimondo Ponte 8 Jahre alt war, besuchte eines Tages sein Grossvater in Napoli seine Schulklasse, lupfte den Hut und sagte zu seinem Enkel, er müsse mitkommen, er ziehe in die Schweiz, wo bereits sein Vater lebte und arbeitete.

Das war 1963. Aus dem neapolitanischen Scugnizzo, dem Schlitzohr, wurde über die Jahre einer der besten Schweizer Fussballer seiner Zeit. Ponte gewann Meistertitel mit GC und spielte in der Nationalmannschaft. 

«Der Anfang war schwer», sagt Ponte. Sein Vater arbeitete in der Schuhfabrik Künzli und ging abends putzen, damit das Geld reichte. Der kleine Raimondo sprach kein Wort Deutsch und spürte die Ablehnung der Schweizer. Er wurde beleidigt, es kam zu Schlägereien. Je besser er im Fussball wurde, umso weniger war seine Herkunft ein Thema. «Ausser wenn wir verloren, dann war ich der Tschingg», sagt er. Das sei aber in der Nationalmannschaft noch heute so.

Die Gastarbeitenden hatten Kinder, die einen neuen Fan-Typ in die Stadien trugen: den Ultra.

Mit den italienischen Gastarbeitern kam auch eine andere Fussballkultur in die Schweiz. Die Italiener gründeten im ganzen Land verteilt Fussballclubs mit Namen wie FC Azzurri Niedergösgen, AS Italiana Bern oder FC Stella Azzurra.

Die Gastarbeitenden hatten Kinder, die einen neuen Fan-Typ in die Stadien trugen: den Ultra. Es sind besonders fanatische Fans, die ihren Club überallhin begleiten, ein Spiel lang singen und Choreografien basteln. Anhänger aber auch, die ihr Fantum auch als Revierkampf begreifen und vor Gewalt nicht zurückschrecken. 

Und manche von diesen Kindern waren so gut, dass sie den Schweizer Fussball prägten: Trinchero, Barberis, Sforza, Sesa oder eben Ponte. Bei diesem setzte sich sogar der Fussballverband für eine möglichst speditive Einbürgerung ein.

Ponte ist zu bescheiden, um seinen Einfluss auf den Schweizer Fussball zu beziffern. «Vielleicht haben wir den Fussball etwas anders gesehen», sagt er. Das sei auf die anderen übergegangen. Die Emotionen. Die Leidenschaft. Und auch der Gedanke, dass die Freude am Fussball nicht am Stadiontor aufhört. Heute gehören zum Beispiel wilde Autokorsos zu gewöhnlichen Meisterfeiern von Schweizer Vereinen. Früher hiess es, das komme aus dem Süden. 

Die Zeiten ändern sich. Heute stammen die Nationalmannschaftsspieler mit fremden Wurzeln vorwiegend aus dem Balkan und Afrika. Zudem kämpfen die einst gegründeten italienischen Fussballclubs mit Mitgliederschwund und öffnen sich. Manche führen heute ihre Generalversammlung auf Deutsch durch. Früher unvorstellbar.