Besuch bei Schweizer Top-WinzerinSie produziert Perfektion in der Flasche und holt 100 Parker-Punkte
Marie-Thérèse Chappaz erzählt, was ihr Biowein mit dem Mond zu tun hat, warum ein Edelpilz ihr Gehilfe ist – und wie die Erfolgsgeschichte weitergeht.
Mit nassen Haaren kommt Marie-Thérèse Chappaz aus dem Haus, flankiert von drei Hunden. Es ist 14 Uhr, und 38 Grad heiss in Fully. Mitten in der Nacht ist sie aufgestanden und hat jetzt wegen der trockenen Hitze den Arbeitstag schon beendet und geduscht. Es wird heute nicht ihre letzte Dusche sein, denn sie wird noch einmal in den schattenlosen Rebberg hochgehen. Doch zuerst muss sie die Brille putzen, ihr Handy finden und einen Kaffee trinken. Müde sei sie, dabei bewegt sie sich schnell durch die Welt.
Müde ist sie nicht nur von der strengen Arbeit mit den Reben: Ihre 91-jährige Mutter lebt zwar noch eigenständig, aber wird von Chappaz und ihren drei Schwestern gepflegt. «Meine Nacht war kurz. Ich musste meine Mama gestern noch kurz besuchen, weil es ihr nicht gut ging», sagt sie.
Pilzbefallene Trauben
Im März hat Chappaz’ Süsswein «Grain par Grain Petite Arvine Domaine des Claives» (2020) vom Fachmagazin «The Wine Advocate» den «perfect score» erhalten: 100 Punkte, die Höchstzahl, Perfektion in der Flasche. Der Wein besteht aus Petite Arvine, die hier in Fully am Hang entlang der Mauern wachsen. Weil die Steine Hitze absondern, werden die handverlesenen Trauben besonders süss.
Einen massiven Beitrag zu dieser Süsse trägt auch der Edelpilz Botrytis bei: Dieser wirkt bei jungen Trauben tödlich, bei reifen hingegen biotroph. Die Schale wird vom Pilz perforiert, in der Frucht verändert sich dann das Verhältnis von Wasser und Zucker. Mit anderen Worten: Die Trauben leben länger und werden süsser.
Die Walliserin arbeitet seit 20 Jahren konsequent biodynamisch, was ihr anfänglich Kritik von anderen Winzern einbrachte. Warum ein siegendes Pferd austauschen, fragten sie damals. «Heute runzelt die Kundschaft die Stirn, wenn man keinen Biowein verkauft», sagt Chappaz.
Vor fünf Jahren hat die Ausnahmewinzerin bereits einen 99-Punkte-Wein produziert. Niemand habe das damals interessiert. Und jetzt? «C’était fou», jetzt war es irre. «Es kamen viele Nachrichten. Und viele Anrufe.» Von ihrer Auszeichnung hat sie erst nach den Ferien erfahren, in denen sie das Handy ausgeschaltet hatte. Chappaz machte Pause nach einem harten Winzerjahr und entspannte in einem Yoga-Retreat. An die 200 Nachrichten kamen rein, die Entspannung sei mit dem Gebimmel schnell verflogen.
Bäuerin und Grande Dame
Zurück in den steilen Rebberg: Wir fahren zuoberst auf den Hügel, mit prächtiger Sicht ins Rhonetal. Die Sonne scheint auf die Trauben, und auch unbarmherzig auf unsere Köpfe. Man kann sich die harte Arbeit im Hang vorstellen. Chappaz winkt ab, heute wehe wenigstens ein Lüftchen. Keine einzige Strasse führt hier hoch, die Trauben werden mit zwei Lastenliften herunter zur Kelterei transportiert.
Wir passieren ein Feld mit gepfropften Reben und halten bei ihrem Fendant. «Rebsorten sind wie Menschen. Alle haben Stärken und Schwächen», so Chappaz. Die Trauben der Petite Arvine beispielsweise mögen keinen Wind, aber viel Sonne. Dafür ist es dem Pinot an diesem Hang zu heiss, er gedeiht auf der anderen Seite des Tals. Chappaz weist mit dem Zeigefinger durchs Tal und zeigt ungefähr dahin, wo es dem Pinot gefällt. Insgesamt bewirtschaftet sie 15 Hektaren auf 60 Parzellen.
«Ich versuche, die Pflanzen nicht allzu fest zu stören.»
In ihr Schaffen fliesst auch der Mondkalender ein: Wichtige Arbeiten erledigt Chappaz nicht bei Mondknoten wie beispielsweise Neumond. «Und ich versuche, die Pflanzen nicht allzu fest zu stören.» Seit der Auszeichnung sind einige Monate vergangen. Die Rebstöcke haben längst wieder ausgeschlagen und tragen pralle Früchte.
Eine Parzelle gehörte ihrem Grossonkel. Ihm verdankt sie es, dass sie Winzerin geworden ist. Mit neun Jahren probierte sie «un tout petit peu» vom Süsswein des Grossonkels, dem Vorgänger ihres Gewinnerweins. Ihre Mutter war Fotografin, ihr Vater besass einen Rebberg. «Er war ein sehr komplexer, introvertierter und manchmal wütender Mann. Er liebte die Natur und war glücklich in der Natur und ihren Früchten», erinnert sie sich. 1968 haben sie gemeinsam den Jahrgang 1967 von Ermitage verkorkt und mit Wachs überzogen, «ein Moment des Glücks und eine grosse Erinnerung an meinen Vater», so Chappaz heute.
«Selbst Leute, die Süsswein nicht mögen, mögen diesen Wein.»
Das erzählt sie, als wir zurück im Haus sind. Es steht unten am Hang, aber noch immer mitten in den Reben. Die Hunde empfangen uns träge. Vor dem Haus wachsen Feigen und Mini-Kiwis. Für die gähnende Winzerin ist es zu warm, um Fragen zu beantworten. Zuvor hat sie hier alle Fenster aufgerissen, um einem Vogel den Weg in die Freiheit zu vereinfachen, der sich ins Haus verirrt hat. Er ist ausgeflogen.
Wir nehmen Platz im kühlen Weinkeller. Hinter ihr stehen Dutzende Kartons, die für die Auslieferung bereit sind, etwa an ein Pariser Hotel. Fürs Foto holt sie einen anderen ausverkauften Wein wieder hervor. «Den muss ich unbedingt zurücklegen, sonst gibts Ärger.»
Der 100-Punkte-Wein mit Jahrgang 2020 ist eigentlich ausgetrunken. Gerade mal drei Flaschen sind übrig. «Diese muss ich für meine Grosskinder zur Seite legen.» 140 Franken kostet eine 37,5-cl-Flasche. Der Jahrgang war bereits vergriffen, bevor sie den «Winzerinnenschlag» erhielt. Und der Jahrgang 2021 ist noch nicht einmal in Flaschen abgefüllt. Ob der auch wieder Potenzial hat für 100 Punkte? Sie zuckt mit den Schultern.
Dann war es Zufall, dass ihr Wein als perfekt eingestuft wurde? «Nein, ist es nicht. Ich wusste sofort, als ich ihn probierte, da haben wir etwas Extraordinäres und nichts Ordinäres gemacht.» Seit gerade mal fünf Jahren produziert sie ihren «Grain par Grain». Jede Traube ist einzeln von Hand gelesen, jede Woche wurden die Stauden erneut nach reifen Früchten abgesucht. 200 Gramm Restsüsse auf den Liter bringt er mit. «Selbst Leute, die Süsswein nicht mögen, mögen diesen Wein.» Weil er nicht nur süss ist, sondern auch ganz viel Körper mitbringt. Chappaz selber schmeckt grüne Zitrone, Passionsfrucht, pinke Pampelmuse.
Für die Fahrt zum Bahnhof wird es hektisch: Der Lieferwagen springt nicht an, die Batterie ist leer. So übernimmt Chappaz’ Assistentin den Dienst. «Ich weiss nicht, woher Marie-T diese Energie nimmt, aber es ist unglaublich», sagt Fiona Margelisch, die ihre Chefin nur beim Spitznamen nennt. Und erzählt von Chappaz: Allein ein Kind aufzuziehen, allein einen Rebberg zu führen, das sei schon beachtlich. Als Winzerin habe sie nicht einfach das Kind abgeben können, sie stand in den Reben – ihre Tochter Pranvera auf den Rücken gebunden. Die Eltern haben sich getrennt, als Pranvera gerade mal zwei Monate alt war. Vor zwei Jahren verliebte sich Marie-Thérèse Chappaz beim Wandern. In Alain. Er brachte zwei der Hunde in die Beziehung, Curtis und Liloo.
Und die Familiengeschichte im Rebberg geht glücklich weiter: Im Herbst startet ihre Tochter, die genug von der Architektur hat und heute selber dreifache Mutter ist, die Winzerinnenlehre auf der Domaine Chappaz. Marie-Thérèse Chappaz sagt dazu: «Früher hätte ich laut jubiliert. Heute bin ich realistischer und frage mich, ob das nicht eine zu harte Arbeit ist.» Hat Tochter Pranvera Chappaz nur ein klein wenig den Elan der Mutter geerbt, dürften sie solche Gedanken kaltlassen.
In der Schweiz ist Marie-T längst eine Ikone, la Grande Dame du Vin, die Ausnahmewinzerin. Winzerin des Jahres. «Solche Auszeichnungen sind eine Belohnung für die harte Arbeit. Ich möchte einfach, dass die Leute Spass an meinen Weinen haben», und bescheiden bleibe sie so oder so. Schliesslich: «Ich hatte einfach Glück, dass ich alte Reben und tolles Terroir übernehmen konnte.»
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