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Meister der Herzen
Sie alle verdienen weniger als Neymar allein

Viel Jubel beim Sensationsteam der Champions League: Die Mannschaft von Atalanta Bergamo feiert nach dem Saisonende der Serie A Anfang August.
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Alles in einem Jahr, Trauer und Triumph, das grosse Drama und eine kleine Freude. Wer ein Herz hat und nicht gerade Pariser ist, der wünscht Bergamo Glück, alles Glück der Welt, vielleicht sogar den Henkelpokal der Champions League. Man soll ja nicht allzu viel Ausserfussballerisches in den Fussball hineininterpretieren und Spiele überhöhen zu Metaphern für das Ganze. Das ist selten gut.

Diesmal schon.

In der schlimmen Phase der Pandemie hat Italien mit Bergamo gelitten und um seine vielen Toten geweint, nun sitzt es gewissermassen kollektiv im Estádio da Luz. Okay, Juventus und Napoli sind raus, da begeht niemand Treuebruch. Aber Atalanta Bergamo ist eben auch eine Herzenswahl. Er ist der kleinste Verein im Lissaboner Finalturnier, der überraschendste Teilnehmer an diesem sonderbar zusammengezurrten Wettbewerb, sicher der sympathischste, originellste, der verdienteste.

Ein Verein ohne grosse Namen, seine Mannschaft kauft er sich für wenig Geld in kleineren Ligen zusammen.

Es ist der Verein einer einzigen Provinz, stolz verwurzelt, der in normalen Zeiten nur Fans daheim hat. Ein Verein ohne Palmarès, eine Coppa Italia, mehr nicht, und die liegt 57 Jahre zurück. Italienischer Meister wurde man noch nie, höchstens mal Meister in der Serie B, der zweiten Liga. Ein Verein ohne grosse Namen, seine Mannschaft kauft er sich für wenig Geld in kleineren Ligen zusammen. Ein Grössenvergleich, der für alle stehen könnte: Das Kader von Atalanta verdient insgesamt weniger als Neymar allein, der brasilianische Superstar von Paris Saint-Germain, dem Gegner im Viertelfinal.

Atalanta also. So heisst eine Göttin aus der griechischen Mythologie, Tochter von Klymene und Iasos. Die fünf bergamaskischen Jugendlichen, Absolventen eines klassischen Gymnasiums, die den Verein 1907 gegründet haben, waren beseelt von diesen Dingen aus der Antike. Und Atalanta war schön, stark, mutig, eine Jägerin. Ihr Vater hatte sie in der Wildnis ausgesetzt, er hätte eben lieber einen Sohn gehabt. Sie wuchs mit Wölfen auf. Ihr Kopf ziert das Wappen des Klubs, mit wallendem Haar. «Dea», das italienische Wort für Göttin, steht als Synonym für den Verein.

Die Göttin ist immer mit dabei: Der Schweizer Remo Freuler beim Eintreffen in Lissabon.

Aber eben, so eine Göttin aus der Antike garantiert noch keinen Erfolg. Atalanta stieg ständig ab und auf, eine Liftmannschaft, routiniert im Graubereich. 2010 war es wieder so weit: Serie B, ein Höllensturz. Niemand konnte ahnen, dass nun eine andere Zeit beginnen würde, eine Epoche, das «Märchen Atalanta». Wobei, ein Anzeichen gab es da schon.

Antonio Percassi hatte den Verein übernommen: Bergamaske, früher mal ein grätschfreudiger Verteidiger von Atalanta, dann Grossunternehmer, Milliardär, nun die Nummer 36 auf der Liste der reichsten Italiener. Sein Geld hatte Percassi mit Immobilien, Einkaufszentren und Kleidern gemacht. Er brachte auch viele internationale Marken nach Italien: Zara, Victoria’s Secret, Lego, zuletzt Starbucks.

Als er die Mannschaft für seine erste Saison vorstellte, baute er dafür eine Bühne auf vor der Curva Nord, der Kurve der Ultras, und beschwor die Fans, sie möchten doch alle ins Stadion bringen, Kinder, Frauen, Mütter, Väter. Voll müsse es sein, immer, damit die Gegner Angst hätten.

Ein Motivationstraining war das, die alte Leier. Die Bilder aber hob man sicherheitshalber auf, sie sind nun Teil einer kleinen Fernsehserie, drei Folgen, je fünfzehn Minuten: «Da Zero a Champions», von null zu Champions. 2017 kaufte Percassi der Stadt das kleine «Stadio Atleti Azzurri d’Italia» ab, es heisst jetzt Gewiss Stadium. Er baut es um, Stück für Stück, damit es dann einmal den Vorgaben der Uefa genügt. Bisher musste man für Heimspiele in der Champions League nach Mailand ausweichen, ins San Siro. Die Curva Nord ist schon fertig, an der Curva Sud sind sie gerade dran. Ohne eigenes Stadion macht ein Verein nur leidlich Kohle, und Percassi ist schliesslich Unternehmer.

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Sportlich revolutionär aber war ein anderer Entscheid, ein Jahr vor dem Stadionkauf. Genauer: am 14. Juni 2016, ein Datum für die atalantinische Geschichtsschreibung. Der Verein holte Gian Piero Gasperini als Trainer, ein Mann mit viel Erfahrung und durchzogenem Ruf: Seine Umgangsformen sind legendär krud. Manche Trainerkollegen der Serie A grüssen ihn nicht mehr, nachdem er sie dumm angegangen hat, auch an der Seitenlinie. An seinem Können zweifelt indes niemand mehr. Der Turiner, der lange als Jugendtrainer bei Juventus gearbeitet hatte, ist ein Freund des «totalen Fussballs», holländische Schule, ein «Guardiolista».

«Gasp», heute 62 und Ehrenbürger Bergamos, formte aus Atalanta einen Chor, in dem alle ständig die Rollen wechseln. Auf dem Papier sieht es nach einem 3-4-1-2 aus, mit dem 1,65 Meter kleinen Argentinier Alejandro «Papu» Gomez als Regisseur hinter den beiden kolumbianischen Spitzen, Duván Zapata und Luis Muriel. Doch immer stürmt auch mindestens ein Verteidiger mit, dazu die zwei schnellen Flügelläufer – für die Überzahl. Die Abwehr der Gegner soll möglichst ins Chaos gestürzt werden. Natürlich ist das riskant, Atalanta ist dann auch grotesk konteranfällig. Aber was für ein Spektakel, was für ein Drang nach vorne. Und mittendrin ist seit 2016 immer auch der Schweizer Remo Freuler.

«Gegen Atalanta zu spielen, ist wie zum Zahnarzt gehen. Du leidest immer.»

Pep Guardiola

Gasperini ändert nie viel an seiner Spielidee, egal, wer der Gegner ist. «Gegen Atalanta zu spielen, ist wie zum Zahnarzt gehen», sagte Pep Guardiola neulich, als sein hoch dotiertes Manchester City in der Gruppenphase die Bergamasken mit Mühe geschlagen hatte. «Du leidest immer.» In Bergamo empfanden sie diese Worte wie die Adelung eines Gesamtprojekts, eines behutsam gepflegten.

Die Nachwuchsarbeit in Zingonia, wo das Trainingszentrum von Atalanta steht, galt immer schon als eine der besten Italiens. Dort wachsen Spieler heran, deren Karteikarten dann den blasierteren Vereinen der Serie A viel Geld wert sind. Atalanta verkauft in der Regel teuer und kauft dann billig, seit Jahren schon. Extravaganzen leistet man sich nur, wenn es mal wirklich nötig ist. Chefscout und Sportdirektor Giovanni Sartori ist darin so gut, dass die Spielphilosophie auch mit immer neuen Figuren auf dem Feld einfach weiterdreht. Auf höchstem Niveau, aus dem Nichts.

Wer hatte zum Beispiel schon von Robin Gosens gehört, einem Deutschen aus Emmerich am Rhein, Jahrgang 1994, linker Aussenverteidiger, als ihn Atalanta vor drei Jahren für 300’000 Euro vom holländischen Verein Heracles Almelo holte? Nun spielt er immer, auch Königsklasse, er stiftet Chaos in gegnerischen Abwehrreihen, erzielt Tore wie nie zuvor.

Gosens ist zum Paradebeispiel des Modells geworden. Er spricht gut Italienisch, auch ein paar Brocken Bergamaskisch sind dabei, für die Serie «Da Zero a Champions» wählten sie ihn aus als Kommentator. Da fliesst alles zusammen, als gehörte es natürlich zusammen. Nichts ist Retorte.

Bei ihm kommt alles zusammen, wofür Atalanta steht: Robin Gosens.

Wenn in Bergamo und seiner Provinz, der «Bergamasca», ein Kind zur Welt kommt, Mädchen oder Bub, dann erhält es als Erstes ein Trikot von Atalanta. Umsonst, eingepackt in eine kleine, weisse Kartontüte mit einem Storch drauf.

Die Hebammen bringen das Geschenk in den ersten Momenten des Glücks, wenn das Kind auf der Brust der Mutter liegt. Seit 2010 ist das so, Percassi nannte seine Initiative «Progetto Neonati Atalantini», Projekt Atalantinische Neugeborene. Allein im Papa Giovanni XXIII., dem grossen Spital der Stadt, sind so schon etwa 36’000 kleine Menschen eingekleidet worden, schwarz-blau, mit Längsstreifen.

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Eine famose Unternehmeridee: von der Nabelschnur der Mutter direkt in die Arme der Göttin mit dem wallenden Haar, der «Dea». So bindet man das Volk an das Schicksal des Vereins. «Als Bergamaske kannst du gar nicht anders, als Atalanta zu lieben», sagt Percassi. Nun ja, in diesem Jahr braucht man dafür nicht einmal Bergamaske zu sein.

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