Proteste gegen Präsident VucicDie serbische Jugend bringt Belgrad zum Beben. Kommt es jetzt zum Showdown?
In der serbischen Hauptstadt fand heute wohl die grösste Protestkundgebung in der Geschichte des Balkanlandes statt.

- In ganz Serbien protestieren Menschen gegen Präsident Aleksandar Vucic.
- Viele Serben werfen der Regierung Korruption und Machtmissbrauch vor.
- Vucic beschuldigt die Opposition, eine Farbenrevolution zu planen.
- Er rechnet mit Unterstützung aus Moskau und Washington.
Sie sind aus allen Teilen Serbiens gekommen. Studenten, Gymnasiasten, Eltern und Uni-Professoren marschierten tagelang in Richtung Belgrad. Manchmal entstand der Eindruck, als sei ein ganzes Volk auf den Beinen, um gegen das Regime von Staatspräsident Aleksandar Vucic zu protestieren.
Unterwegs wurden die Studierenden und ihre Unterstützer wie bei einem Marathon mit Applaus empfangen und angefeuert. Am Strassenrand standen oft Frauen und Männer, die Essen für die Demonstranten vorbereitet hatten – vor allem Gulasch und Pogaca, ein herrlich luftiges, traditionelles Brot aus der Küche der Grossmütter. Die Protestwelle wird vom regierungskritischen Fernsehsender N1 bis ins Detail dokumentiert.
Viele weinten vor Freude
Als die Studierenden aus dem zentralserbischen Kragujevac (140 Kilometer) oder aus Subotica an der Grenze zu Ungarn (190 Kilometer) am Freitagabend in der Hauptstadt Belgrad eintrafen, herrschte beim Empfang eine euphorische Stimmung. Viele weinten vor Freude, begleitet von Trommeln, Trillerpfeifen und Vuvuzelas. Im Herzen der Metropole wurde ein roter Teppich für die Protestierenden ausgerollt. Aus Zehntausenden Kehlen schallte es «Pumpaj», eine Art Losung der Protestwelle, die in etwa bedeutet: «Erhöht den Druck!» – bis die Staatsmacht eine lückenlose Aufklärung des Unglücks in der Stadt Novi Sad ermöglicht.

Dort waren Anfang November beim Einsturz des Bahnhofsvordachs 15 Menschen ums Leben gekommen. Für die Volksmasse besteht kein Zweifel, wer die Schuld dafür trägt: Die korrupte Regierung und vor allem der autokratische Staatschef Aleksandar Vucic, der 2022 den renovierten Bahnhof in Novi Sad eingeweiht hatte.
«Das ist der Dominostein, der eine Lawine auslösen wird»
Am Samstagnachmittag fand in Belgrad dann die grösste Kundgebung der Protestwelle statt, die auch im fünften Monat nicht verebbt. Beobachter bezeichneten die Kundgebung als die grösste Demonstration in der Geschichte des Balkanlandes, schreibt die Deutsche Presseagentur.
«Das ist der Dominostein, der eine Lawine auslösen wird», sagte ein Teilnehmer des Fussmarsches. Auf der Terazije, einer Belgrader Spaziermeile, trat am Freitag auch Dijana Hrka auf. Ihr Sohn Stefan ist eines der 15 Opfer der Tragödie von Novi Sad. «Das ist die beste Generation, die wir je hatten, das sind buchstäblich Engel», sagte sie vor der begeisterten Menge. «Stefan schaut von oben herab, ganz Serbien steht hinter ihm, und ich hoffe, er ist stolz auf seine Mutter, die seine Ehre verteidigt», sagte Hrka.

Vucic, der die serbische Politik seit 2014 dominiert und 2017 zum Staatschef gewählt wurde, wirkt erstmals verunsichert. In den vergangenen Jahren gab es häufig Demonstrationen gegen ihn. Doch diese Protestwelle hat eine ganz andere Wucht, viele Menschen haben die Angst überwunden. Sie werfen der regierenden serbischen Fortschrittspartei (SNS) vor, Serbien in einen Selbstbedienungsladen verwandelt zu haben. Sie fordern funktionierende Institutionen, freie Medien und eine Gewaltenteilung.
Regimetreue Schläger
«Das Land ist unter völliger Kontrolle der Regierungspartei. Es gibt keine Lebensperspektive jenseits des Machtapparats von Aleksandar Vucic», sagte kürzlich der Schweizer Osteuropahistoriker Oliver Jens Schmitt, der an der Uni Wien lehrt. «In Serbien bekommt kaum jemand eine gute Stelle, wenn er nicht in irgendeiner Weise dem politischen System zugeneigt ist. Diese Abhängigkeiten sind sowohl dysfunktional als auch korrupt. Studierende sehen das kritisch und fühlen sich eingesperrt. Viele wandern sogar aus. Doch diejenigen, die auf die Strasse gehen, setzen sich für ein besseres Leben im eigenen Land ein», so Schmitt in einem Interview, das auf der Website der Österreichischen Akademie der Wissenschaften veröffentlicht wurde.

Die Spannungen in Belgrad haben in den letzten Tagen zugenommen. Vucic beschuldigt die Opposition, sie wolle eine «Farbenrevolution» inszenieren, um die Macht zu erobern. Anhänger des Präsidenten, die sich als Studenten ausgeben, campierten in einem Park im Zentrum Belgrads. Laut unabhängigen Medien handelt es sich vor allem um regimetreue Schläger. Tatsächlich sollen Unbekannte am Samstagabend auch Demo-Teilnehmende attackiert haben.
Diese Woche tauchten dort auch Veteranen einer offiziell aufgelösten Sondereinheit der Polizei auf. Sie wird mit der Ermordung des prowestlichen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic vor 22 Jahren in Verbindung gebracht. Vucic drohte, die Staatsmacht werde Randalierer nur «fünf oder sechs Minuten» gewähren lassen.
«Sie werden mich töten müssen»
Einige Oppositionspolitiker und Kommentatoren plädieren für eine Übergangsregierung, die innerhalb von 6 bis 12 Monaten freie Wahlen organisieren könnte. Vucic entgegnete, er werde nicht nachgeben. «Sie werden mich töten müssen», so der Präsident. Vucics Partei hat die Opposition mit gezielten Rufmordkampagnen an den Rand gedrängt. Gegen die von Studenten angeführte Protestbewegung findet er kein Rezept. Die Kundgebungen verlaufen friedlich, es gibt keine Wortführer, die von der Staatsmacht zur Zielscheibe erklärt werden können.
«Steuert Serbien auf sein 1968-Moment zu?», fragte unlängst die serbische Journalistin Tatyana Kekic in der britischen Zeitschrift «Spectator». Damals gingen im kommunistisch regierten Jugoslawien Tausende Studenten auf die Strasse, um für Meinungsfreiheit und Chancengleichheit zu demonstrieren. In den sozialen Medien in Serbien kursiert seit Wochen eine Rede von Josip Broz Tito aus dem Jahr 1968. Darin bezeichnet der Diktator die Studierenden als «ehrliche Jugendliche», die von der Regierung im Stich gelassen worden seien.
Im Gegensatz zu Vucic, der von einer ausländischen Intrige gegen ihn spricht, machte Tito nicht den bösen Westen für die Proteste verantwortlich. Er verwies vielmehr auf «unsere angehäuften Schwächen, die wir heute lösen müssen».
Die EU bleibt untätig
Vom Westen geniessen die serbischen Studierenden keine Unterstützung. Deshalb sind bei den Protesten auch keine EU-Fahnen zu sehen. Vucic gilt in der EU und den USA seit Jahren als Stabilitätsanker und Geschäftspartner. Trotz massiver Proteste von Umweltschützern schloss er im vergangenen Juli mit der EU einen grossen Deal zum Abbau von Lithium. An der Zeremonie in Belgrad nahm auch der deutsche Kanzler Olaf Scholz teil. Bedenken von Aktivisten wies er zurück.
In den letzten Tagen versuchte Vucic dem Volk zu signalisieren, dass er die Unterstützung von zwei sehr mächtigen Männern geniesst. Am 7. März telefonierte er mit Wladimir Putin («ausgezeichnetes Gespräch!»), am 11. März empfing er Donald Trump Junior. Vucic sagte dem Sohn des US-Präsidenten, hinter der Protestwelle in Serbien stünden Nichtregierungsorganisationen, die jahrelang von der US-Entwicklungsbehörde USAID finanziert worden seien.
Kampagne gegen USAID
Was Vucic verschwieg: Laut «New York Times» gingen mehr als 90 Prozent der US-Hilfsgelder – etwa eine Milliarde Dollar - an die Regierung und staatsnahe Institutionen. 2021 sagte die damalige Premierministerin Ana Brnabic, dass die USAID-Aktivitäten in Serbien «unser Land schöner und reicher machen».
Brnabic, heute Parlamentspräsidentin, hat laut serbischen Medien lange als Projektleiterin für die US-Entwicklungsagentur gearbeitet. Nachdem Elon Musk USAID als kriminelle Organisation bezeichnet hatte, entfernte das serbische Parlament kurzerhand das Logo der Hilfsorganisation von der Startseite seiner Website.
Mit Trumps Sohn sprach Vucic auch über «gemeinsame Projekte in den kommenden Jahren». Gemeint sind damit die Pläne der Familie Trump, in Belgrad ein Luxushotel und mehrere Hochhäuser zu bauen.
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