Leidgeplagter SchwingerSeinem Körper gehen die Ersatzteile aus – und doch kann er König werden
Pirmin Reichmuth hat vier Kreuzbandrisse erlitten und fünf Saisons verpasst. Statt aufzuhören, ist er nach drei Jahren Pause fulminant zurückgekehrt. Die Konkurrenz fürchtet sich.
Seit letztem Sonntag liegt er in Führung. 5:4 steht es aus Sicht von Pirmin Reichmuth, wobei es sich beim Gegner um ihn selbst handelt – respektive um seine Knie. Nach dem Triumph am Aargauer Kantonalen liegt er bei fünf Kranzfestsiegen, demgegenüber stehen die vier Kreuzbandrisse, die der 26-Jährige erlitten hat.
Reichmuths Karriere gleicht einer Fahrt auf der Achterbahn. Er war schon ganz oben, doch ging es immer auch rasant bergab. Zuletzt im Freiamt verspürte er wieder einmal diese grenzenlose Euphorie: 6 Gänge, 6 Siege, mit 59,75 Punkten ein annähernd makelloses Notenblatt – es war die traumhafte Wiederauferstehung des an und für sich verlorenen Schwingersohnes.
Fast drei Jahre lang bestritt er zuvor keinen Wettkampf; 2020 versperrte Corona den Zugang zu den Sägemehlringen, und im letzten Frühling hörte Reichmuth zum vierten Mal diesen fürchterlich-verhängnisvollen Knall im Knie. Nach drei Kreuzbandrissen rechts war nun das linke kaputt. Wäre erneut die rechte Seite in Mitleidenschaft gezogen worden, hätte Reichmuth wohl den Schlussstrich ziehen müssen. «Ich habe gar keine Ersatzteile mehr», sagt der Zuger mit gequältem Lächeln. «Ein Kreuzband wird nicht mit Material des anderen Beins geflickt. Und rechts ist bei mir nach all den Verletzungen schlichtweg nichts mehr vorhanden.»
Er hat fünf Saisons verpasst
Gerade mal ein Fest hat Reichmuth gebraucht, um Konkurrenten wie Experten ins Staunen zu versetzen. Sechs Siege, und schon sehen in ihm viele den ersten Herausforderer von Dominator Samuel Giger hinsichtlich des Eidgenössischen in Pratteln (27./28. August). Der Innerschweizer hat früh als Ausnahmetalent gegolten, selbst Schwingerkönige adelten ihn. Matthias Sempach bezeichnete ihn früher als «Juwel im Sägemehl», Jörg Abderhalden sprach vom «perfekten Athleten». Reichmuths Masse: 198 cm, 130 Kilo. Dazu: Oberarme und Oberschenkel wie Baumstämme. Er ist technisch vielseitig, schwingt offensiv, «bei ihm stimmt eigentlich alles», sagte einst Christian Stucki.
Eigentlich, denn da ist diese körperliche Fragilität. Mit 18 schon riss das Kreuzband, ein paar Monate später passierte es bei einem der ersten Trainings nach dem Comeback erneut. Später nahm der Meniskus Schaden, und 2017 folgte die dritte schwere Blessur. Fünf komplette Saisons verlor der Sennenschwinger, er hat in seiner Laufbahn mehr pausiert als geschwungen. Doch steht er einmal im Sägemehl, fallen die Gegner oft wie reife Äpfel. 2019 siegte er auf dem Brünig und innert eines Monats an drei grösseren Festen in der Innerschweiz. «Von meinen letzten acht Festen habe ich fünf gewonnen. Es könnte also schlimmer sein bei mir», sagt er schmunzelnd.
Er dachte daran, aufzuhören und Kugelstösser zu werden.
Vor allem aber könnte Pirmin Reichmuth jammern mit sich und der Schwingerwelt. 18 Kränze hat er gewonnen, an und für sich müssten es dreimal so viele sein. Er habe aufgehört, an Statistiken zu denken, sagt der Hüne, «ich werde da nie vorne dabei sein. Und mein Körper ist nicht gemacht für zehn Feste pro Jahr. Das muss ich akzeptieren.»
Doch Reichmuth hadert nicht, «überhaupt nicht», sagt er entschieden. Wobei es schon düstere Momente gab, «echte Hänger», wie er diese umschreibt, als er gar ans Aufhören dachte. Sie flatterten jeweils unmittelbar nach der erlittenen Verletzung auf, in den Emotionen entfuhr Reichmuth einmal die flapsige Bemerkung, vielleicht beende er bald die Karriere und werde Kugelstösser.
So gefährlich wie Skifahren
Nicht zuletzt die Arbeit mit dem Mentaltrainer hat Reichmuth geholfen, seinen Werdegang zu akzeptieren. Vor einer neuerlichen Blessur fürchtet er sich nicht, und auch die Art von Knieschmerzen, die vom Kopf her kamen, verspürt er nicht mehr. Er hat gelernt, auf den Körper zu hören, nur dann zu forcieren, wenn es die Situation erlaubt. Seine dicke Krankenakte sei zu einem Teil selbst verschuldet, hält er fest. «Nach der ersten Verletzung wollte ich zu schnell zurückkehren, und beim vierten Kreuzbandriss war ich erschöpft, wollte im Training aber etwas erzwingen.»
Schwingen ist kein ungefährlicher Sport, die Anzahl an Verletzungen ist hoch – Tendenz steigend. Bezüglich Risiko vergleicht Reichmuth die Sportart mit Skifahren, «es wirken extreme Kräfte, und das Gewicht des Gegners kann sich bei bestimmten Aktionen verheerend auswirken». Er weiss, wovon er spricht: Nach der Metzgerlehre liess sich Reichmuth zum Physiotherapeuten ausbilden; das Know-how sei ein Vorteil, sagt der Athlet, derweil sein Konditionstrainer Tommy Herzog festhält, sein Schützling wisse sehr viel, vielleicht fast zu viel. «Er macht sich sicher mehr Gedanken als andere.»
Wobei Reichmuth lockerer geworden ist. Am Eidgenössischen 2019 galt er als grosser Favorit auf den Königstitel, es war alles angerichtet daheim in Zug, nur war er dem Druck nicht ganz gewachsen. Die letzten Wochen vor dem Fest seien brutal gewesen, er habe an allem herumstudiert, sein Kopf sei fast explodiert, erzählt er. Und so war der Schlussgang für den verkrampften Reichmuth bereits nach zwei Gängen kein Thema mehr; trotz Rang 3 war er letztlich froh, als das Fest vorbei war.
Seither ist vieles anders, Reichmuth setzt etwa viel weniger auf Rituale. Früher ass er zwischen jedem Gang ein Mütschli mit Bündnerfleisch, liess gar mit einem Kompressor das Sägemehl aus den Schuhen blasen. Heute geht er die Sache entspannter an. «Ich geniesse es mehr», sagt er nur.
Für den Videobeweis am Eidgenössischen
Geblieben ist Reichmuth als Innerschweizer Vertreter im fünfköpfigen Aktivenrat des Eidgenössischen Schwingerverbandes (ESV). Zurück hält er sich nicht. So setzte er während der Pandemie den ESV unter Druck und sprach sich entschieden für Geisterschwingfeste aus, nun tut er Selbiges für den Videobeweis – dieser sollte seiner Meinung nach im Schlussgang eines Eidgenössischen zu Rate gezogen werden dürfen. «Dieser Kampf kann das Leben eines Schwingers verändern, nicht zuletzt finanziell. Da sollten die Kampfrichter nicht alleingelassen werden. Sie stehen ohnehin schon brutal unter Druck.»
Allein gelassen wurde Pirmin Reichmuth nie. Viele Schwinger meldeten sich bei ihm, als er an Krücken humpelte, es ihm auch mental nicht gut ging. Und so sehr sich die Konkurrenz nun bereits ob dem Rückkehrer fürchtet, gegönnt wird ihm der Erfolg allemal: Nachdem Patrick Räbmatter den Schlussgang am Aargauer Kantonalen gegen Reichmuth nach wenigen Sekunden verlor, suchte er nicht das Weite. Er selbst huldigte dem Triumphator. Und hob ihn auf seine Schultern.
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.