Zu defensiv in die NiederlageSechs Gründe, wie es zu Roglics schwarzem Tour-Tag kam
Der Jumbo-Visma-Captain verlor die Tour de France nach zehn Tagen als Gesamtleader im abschliessenden Zeitfahren. So passierte Primoz Roglic das Missgeschick.
Im Ziel sass er lange Minuten am Boden, wortlos, fassungslos. Als souveräner Leader war Primoz Roglic zum Zeitfahren der zweitletzten Etappe der Tour de France gestartet. Als schwer geschlagener Zweiter kam er ins Ziel. Wirkliche Gründe für seine sehr durchschnittliche Leistung, die den Umsturz an der Spitze des Klassements möglich machte, hatte er auch später nicht, als er sich vor den Medien erklären sollte. Oder er mochte sie öffentlich einfach nicht preisgeben. Vielleicht, weil ihn die in dieser Liste aufgeführten Mankos ziemlich schmerzen.
Jumbo-Vismas arrogante Taktik
Sie dominierten die Tour de l’Ain. Sie bestimmten das Critérium du Dauphiné. Warum sollten sie an der Tour de France etwas an dieser Taktik ändern? Das Team Jumbo-Visma trat mit einer Besetzung an, auf die jeder andere Teammanager neidisch sein musste. Roglic hatte, weil die Niederländer wirklich alles auf die Karte Tour setzten, mit Tom Dumoulin und Wout Van Aert Edelhelfer an seiner Seite, die in jeder Equipe eine Leaderrolle erhalten würden.
Entsprechend dominant – wenn nicht fast arrogant – bestritt Jumbo-Visma die Etappen, liess kaum einem Angreifer Raum zur Entfaltung. Nur: Abgesehen von den Etappensiegen, die Van Aert ersprintete, schaute viel zu wenig raus mit dieser personellen Überlegenheit. So hätte man etwa mit frühen Angriffen von Dumoulin oder Kletterer Sepp Kuss sehr wohl die Konkurrenz zum Handeln zwingen können.
Die seltenen Angriffe
Mehrmals schien alles angerichtet für Roglic: Sein Team hatte die Favoritengruppe mit seiner Tempofahrt am Berg komplett ausgedünnt – ganz nach dem vom Team Sky/Ineos bekannten Schema. Bei den Briten folgte als letzte Stufe jeweils der Angriff ihres Leaders, mit dem sich Wiggins, Froome und Thomas jeweils den entscheidenden Vorsprung für ihre Siege verschafften. Bei Roglic wartete man vergeblich darauf. Stattdessen vertraute er auf seinen Sprint und die damit verbundenen Bonussekunden. Allerdings klappte auch das nicht durchwegs. Er gewann die erste Bergankunft, zweimal wurde er von Tadej Pogacar bezwungen.
Pogacar als Gegner unterschätzt
Vor der Tour drehten sich die Diskussionen um drei Namen: Roglic, Egan Bernal und Thibaut Pinot. Letztere beiden hatten sich im Vorjahr ein begeisterndes Duell um den Tour-Sieg geliefert, wurden nun erneut als Topfavoriten eingestuft – zusammen mit dem Slowenen.
Entsprechend entstand in diesem Rennen ein gewisses Vakuum, als sich bald herausstellte, dass weder Pinot (nach seinem Sturz auf der 1. Etappe) noch Bernal (wegen mangelnder Form) echte Gegner waren. Nun sollte dieser 21-jährige Tour-Debütant tatsächlich der ärgste Herausforderer sein? Obwohl er sich praktisch ohne Hilfe seines Teams UAE-Emirates durchschlagen musste? Es ist irgendwo menschlich, dass bei Jumbo-Visma Pogacar als Konkurrent vielleicht nicht ganz so gefährlich eingestuft wurde.
Dazu kam, dass Roglic und er befreundet sind, Pogacar sich entsprechend nicht so richtig als «Feindbild» eignete.
Die Lehren aus dem Giro 2019?
Im Frühling 2019 gewann Roglic souverän die UAE-Tour, dann den Tirreno–Adriatico, dann die Tour de Romandie. Ungeschlagen reiste er zum Giro d’Italia – als Topfavorit. Zwei Wochen lang fuhr er entsprechend dieses Status, gewann beide Zeitfahren, verlor nirgendwo Zeit. Doch er konzentrierte sich allein auf Vincenzo Nibali – und realisierte dabei nicht, dass ihm mit Richard Carapaz ein neuer Gegner erwachsen war. In der dritten Woche verlor er viel Zeit, erst im Abschlusszeitfahren rettete er zumindest den Podestplatz.
2020 wiederholt sich die Geschichte: Ein überragender Roglic in der Vorbereitung. Ein starker in den ersten zwei Dritteln der Tour. Und ein deutlicher Formrückgang zum Ende hin. Die Jumbo-Visma-Trainer werden sich erklären müssen bezüglich des Trainingsaufbaus ihres Leaders.
Die unterschätzte Schlüsseletappe
Nach der 15. Etappe und dem abermaligen Duell Roglic-Pogacar auf dem Grand Colombier folgten die ersten Fragen zum Zeitfahren am vorletzten Tag. Roglic antwortete sehr vage. «Jeder Vorsprung ist besser als ein Rückstand», sagte er etwa lakonisch.
Auch über einen möglichen Wechsel vom Zeitfahr- aufs Rennvelo mochte er nicht diskutieren, «ich entscheide das bei der Besichtigung vor der Etappe». Pogacar war da viel weiter: Sein Team hatte das Zeitfahren hoch nach La Planche des Belles Filles als Schlüsseletappe definiert und mit dem Fahrer vorab besichtigt.
Im Rennen trug Roglic erstmals einen neuen Zeitfahrhelm, der ihm augenscheinlich nicht richtig passte. «Lassen wir die Diskussionen übers Material», war alles, was er dazu sagte.
Unnötige Unruhe im Team
Die Königsetappe hoch zum Col de la Loze war ein guter Tag für Roglic: Er holte 17 Sekunden auf Pogacar heraus. Doch im Ziel gab es Ärger. Die UCI-Kommissäre wollten sein Velo kontrollieren – ein regelmässiges Prozedere seit dem Vorwurf, es gebe «mechanisches Doping» im Peloton. Doch der Teammechaniker, der die Kurbel zur Überprüfung des Rahmens hätte abschrauben sollen, war bereits ins Tal gefahren. Also legte der UCI-Mechaniker Hand an – und beschädigte dabei laut Angaben von Jumbo-Visma die Kurbel und auch den Lenker.
Der sportliche Leiter Merijn Zeeman vergriff sich darauf gegenüber den Kommissären derart im Ton, dass diese ihm die Tour-Akkreditierung entzogen. Ausgerechnet ihm, der als Hirn des Teams gilt – in den entscheidenden Tagen des Rennens.
Zugleich hinterlässt die Geschichte einen Nachgeschmack. Zwar stellte die UCI klar, dass es an Roglics Velo nichts zu beanstanden gab. Doch Zeemans Wutausbruch erinnerte an eine andere Geschichte: 2016 hatte der französische TV-Sender France 2 in einem Beitrag über mögliches «mechanisches Doping» bei einem Radrennen mit einer Wärmekamera gefilmt. Aufgefallen war dabei unter anderem: das Hinterrad von Primoz Roglic. Mehr wurde aber nie herausgefunden.
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