Krise bei Flughäfen, Boom bei LädenSchweizer Sensorikfirma hilft weltweit, Gedränge zu vermeiden
Wie viele Leute halten sich in einem Laden auf, und wie kommen sich Passagiere in einem Flughafen nicht in die Quere? Eine Berner Firma ist in diesen Geschäftsfeldern Weltmarktführerin.
Wieder einmal hat sich eine Schlange gebildet vor dem Eingang zur Alnatura-Filiale am Berner Bärenplatz. Das Prozedere ist inzwischen vertraut: Ein Monitor mit rotem Signal zeigt an, dass derzeit keine zusätzliche Person in den Laden eintreten darf. Eine computergenerierte Stimme mahnt in Endlosschlaufe alle paar Sekunden zur Geduld. Als eine Kundin die Nerven verliert und trotzdem eintritt, erklingt ohrenbetäubendes Sirenengeheul.
Ohne Personenzählsysteme läuft im Detailhandel nichts mehr seit Ausbruch der Corona-Pandemie. Christian Studer, Mitgründer und Innovationschef der Firma Xovis mit Hauptsitz im bernischen Zollikofen, sagt, die Nachfrage aus dem Detailhandel sei parallel zur Covid-Infektionskurve angestiegen. Xovis entwickelt seit zehn Jahren Sensoren zur Personenzählung und ist in dieser Nische Weltmarktführer.
Starker Rückgang bei den Flughäfen
In den ersten Jahren waren Flughäfen das wichtigste Geschäftsfeld. Von Sydney über Dubai, Doha, London, Frankfurt, Atlanta und Toronto bis nach Südamerika wird die Wartezeit der Passagiere mit Xovis-Technologie gemessen und optimiert. Über 100 Flughäfen konnten Studer und sein Team in den letzten zehn Jahren als Kunden gewinnen, die Berner Firma ist in dieser Zeit von 6 auf 130 Angestellte gewachsen. Vor einem Jahr hat Xovis noch ein Büro in Shanghai eröffnet als Ergänzung zum Hauptsitz und zur Niederlassung in Boston. Dann kam Corona, und weltweit blieb ein Grossteil der Flugzeuge am Boden. «Wir hatten Mühe, an den Flughäfen überhaupt noch jemanden zu erreichen», erinnert sich Studer, «unser Umsatz im Fluggeschäft hat sich halbiert.»
Glücklicherweise verlief die Entwicklung im anderen wichtigen Geschäftsfeld, das Studer und sein Team in den letzten Jahren aufgebaut hatten, genau umgekehrt. Coop, Migros, Aldi, Lidl – im März meldeten sich alle Branchengrössen bei Xovis, um den Kundeneinlass steuern zu können. «Personenzählung ist komplizierter, als der Laie denkt», sagt Studer. Der 40-jährige Elektroingenieur hat die Firma mit seinem Bruder und einem ETH-Studienkollegen gegründet.
Grosses Wachstum bei den Detailhändlern
Kürzlich war Studer beim Eingang eines Detailhändlers angezeigt worden, aktuell befänden sich minus 10 Kunden im Laden. Laut Studer gibt es weltweit nur drei bis vier Anbieter, welche verlässliche Zahlen liefern. Von der Expertise in dieser Nische hat Xovis im letzten Jahr profitiert. Nach der ersten Welle mit Schweizer Aufträgen trafen auch zahlreiche Bestellungen aus Deutschland, Australien und zuletzt aus den USA ein, wodurch Xovis den Umsatz im Detailhandel verdoppeln konnte gegenüber dem Vorjahr. Unter dem Strich blieb das Unternehmen auch im Krisenjahr 2020 profitabel.
«Wenn man mit dem gesamten eigenen Vermögen involviert ist und die Firma rasch wächst, wird man irgendwann zum Bremsklotz.»
Christian Studer spricht trotzdem von einem «sehr herausfordernden» Geschäftsjahr. Jeden Montag habe man in der Geschäftsleitung erst einmal darüber reden müssen, wie die Welt aktuell aussehe, an welchen Plänen man festhalten könne, welche man über den Haufen werfen müsse. Er ist froh, lastet die finanzielle Verantwortung fürs Unternehmen nicht mehr auf den Schultern des Gründerteams. «Wenn man mit dem gesamten eigenen Vermögen involviert ist und die Firma rasch wächst, wird man irgendwann zum Bremsklotz», sagt der Gründer.
Die ersten fünf Jahre habe er sich einen lausigen Lohn ausbezahlt und rund um die Uhr ans Unternehmen gedacht, doch ab einer Grösse von 70 Angestellten habe er das finanzielle Risiko nicht mehr tragen wollen. So verkaufte Xovis die Aktienmehrheit 2016 an eine deutsche Beteiligungsgesellschaft, seit 2019 ist die Schweizer Investmentgruppe Capvis Mehrheitsbesitzerin.
Die Wohlfühldistanz wächst
Christian Studer rechnet damit, dass auch das Flughafengeschäft bald wieder anziehen wird. Im Krisenjahr 2020 hat Xovis ihren Kunden gratis ein Softwaremodul zur Verfügung gestellt, das ihnen ermöglicht, mit der bestehenden Technologie die physische Distanz zwischen Passagieren zu errechnen. So könnten Flughäfen vermeiden, dass es zu Ansammlungen vieler Menschen oder gar einem Gedränge komme.
Vor Corona habe die durchschnittliche Wohlfühldistanz in Europa 70 Zentimeter betragen. Nun stelle sich bei vielen schon bei deutlich grösseren Abständen ein ungutes Gefühl ein.
Vor Corona habe die durchschnittliche Wohlfühldistanz in Europa 70 Zentimeter, in Asien 50 Zentimeter betragen. Nun stelle sich bei den meisten Leuten schon bei deutlich grösseren Abständen ein ungutes Gefühl ein, wenn sich eine fremde Person nähere. Die Iata, der Dachverband der Fluggesellschaften, geht davon aus, dass die Flughäfen wegen neuer Vorschriften und veränderter Kundenbedürfnisse schon bei 30 Prozent des früheren Passagiervolumens die Kapazitätsgrenzen erreichen würden. Umso wichtiger sei es, die Personenbewegungen genauer registrieren und den Personenfluss in Echtzeit flexibel steuern zu können, sagt Studer.
Alternative zur Videoüberwachung
Zudem will sich Xovis in neuen Geschäftsfeldern etablieren. Schon heute gehören zum Beispiel die Stadt Venedig, diverse Kreuzfahrtschiffe, Skigebiete, Museen wie das Verkehrshaus Luzern und Sportstadien wie die Münchner Allianz-Arena oder das Camp Nou in Barcelona zur Kundschaft. Bald soll Xovis auch im öffentlichen Verkehr und im Gebäudemanagement eine wichtige Rolle spielen und mithelfen, die Auslastung und das Energiemanagement zu verbessern.
Drohen dadurch bald Zustände wie in China, wo Passanten in der Öffentlichkeit gefilmt und schon bei kleinen Vergehen bestraft werden? «Auf keinen Fall – wir haben Xovis gegründet, um eine Alternative zur Videoüberwachung von Individuen anzubieten», sagt Christian Studer dezidiert.
Die Xovis-Sensoren erkennen keine Individuen und liefern keine Bilder, aber sie können den erfassten Bewegungspunkten Attribute zuordnen wie zum Beispiel das Geschlecht, die Blickrichtung oder ob jemand eine Gesichtsmaske trägt oder nicht. «Die Respektierung der Privatsphäre gehört zur DNA unserer Firma und wird immer unantastbar bleiben», versichert Studer.
* Mathias Morgenthaler war Wirtschaftsredaktor bei Tamedia und ist heute als Autor, Coach und Referent tätig. Er ist Autor der Bestseller «Aussteigen – Umsteigen» und «Out of the Box» und Betreiber des Portals www.beruf-berufung.ch
Fehler gefunden?Jetzt melden.