Amtspflicht in Schweizer GemeindenEr will nicht, aber er muss: Wie ein Urner Gemeinderat in sein Amt gezwungen wurde
Andreas Baumann wurde in Wassen gegen seinen Willen gewählt. Der Bauer ist einer von überraschend vielen im Land, die sich einer Zwangswahl beugen müssen.
- Andreas Baumann-Zurfluh wurde unfreiwillig in den Gemeinderat von Wassen UR gewählt.
- In sieben Kantonen ist der sogenannte Amtszwang gesetzlich verankert.
- Viele Gemeinden finden kaum noch Kandidierende für Exekutivämter.
- Gewählte können bei Verweigerung mit einer Busse und Eintrag im Strafregister bestraft werden.
Alles beginnt beim Bier. Es ist Mitte September, das Dorf Wassen im Kanton Uri versammelt sich zum Alpabzug. Bäuerinnen und Bauern holen ihre Kühe und Schafe von der Alp und ziehen mit den geschmückten Tieren durchs Dorf. Auch Bauer Andreas Baumann-Zurfluh nimmt teil, er hat seine Schafe über den Sommer jeweils auf der Alp. Als er am Abend in der Beiz sitzt, rutscht es einem Kollegen irgendwann raus: «Andi, du musst jetzt in den Gemeinderat.»
Der 39-Jährige will nicht recht glauben, was er da hört. Und versucht es dem Kollegen auszureden. Denn Baumann führt einen grossen Hof mit 20 Hektaren Land und zeitweise bis zu 160 Schafen, ein paar Kühen und Ziegen. Und er hat sechs Kinder.
Doch sein Widerstand ist vergeblich. Vergangenen Sonntag wird Baumann in den Gemeinderat von Wassen gewählt – gegen seinen Willen. Er muss einen von zwei frei gewordenen Sitzen übernehmen. Auch der andere Gewählte, Felix Baumann-Baumann, hat nicht kandidiert.
Nicht nur die Nachnamen wiederholen sich in Wassen (der Gemeindepräsident ist ebenfalls ein Baumann). Im Dorf kommt es zum sogenannten Amtszwang, wie ihn die Gemeinde mit ihren 450 Einwohnerinnen und Einwohnern schon mehrmals erlebt hat. Und der sorgt längst nicht nur in Uri für viel Stunk.
Ein Zwang zum «Funktionieren der Demokratie»
Viele Kantone haben den Amtszwang über die Jahre abgeschafft. In sieben steht er hingegen noch immer im Gesetz: Zürich, Nidwalden, Appenzell Innerrhoden, Luzern, Solothurn, das Wallis und eben Uri. Wenn niemand kandidiert, muss die Person mit den meisten Stimmen das Amt übernehmen.
Und dann trifft es eben jene, auf die man sich am Stammtisch einigt.
Der Amtszwang, so hielt es die Urner Regierung einmal fest, «dient letztlich dem Funktionieren der Demokratie». Und er ist Teil des Milizsystems, eines der Hauptpfeiler der Schweizer Demokratie. Nur haben viele Gemeinden Mühe, Leute zu finden, die ein Amt übernehmen wollen. Der Aufwand ist hoch, der Lohn häufig mager.
Diese Problematik griff auch das am vergangenen Dienstag publizierte nationale Gemeindemonitoring der ZHAW School of Management and Law auf. Die Hälfte der befragten Gemeinden gibt an, dass sie ihre Exekutivämter kaum besetzen können. Weil der Zeitaufwand hoch ist. Weil die Arbeit komplexer wurde. Im Durchschnitt muss ein Gemeinderat oder eine Gemeinderätin 9,9 Stunden pro Woche für das Amt aufwenden. Der Präsident oder die Präsidentin gar das Doppelte.
Für Baumann ist das zu viel. «Ich habe keine Zeit für lange Sitzungen», sagte er wenige Stunden nach seiner Wahl gegenüber der Pendlerzeitung «20 Minuten». Gleich ergeht es dem zweiten Baumann, der unfreiwillig ins Amt gewählt wurde. Er sei wütend und zu emotional, um zurzeit über seine Wahl zu sprechen, sagte er dieser Redaktion. Er wolle das zuerst sich setzen lassen.
Viel Zeit bleibt nicht. Die Gewählten haben zehn Tage Zeit, um schriftlich Einsprache zu erheben. Der Gemeinderat müsste dann die Ablehnungsgründe beurteilen.
Nicht zuletzt deswegen ist die Situation auch unbequem für den Gemeindepräsidenten Beat Baumann-Nogueira. Er musste die beiden Zwangsgewählten am Sonntag am Telefon über die Wahl informieren. Und er müsste sie bei einer ungerechtfertigten Verweigerung bei der Staatsanwaltschaft melden. Dabei hat Baumann in den letzten Monaten alles versucht, um Kandidatinnen und Kandidaten zu finden.
«Wir liessen gar ein Schreiben an die ganze Bevölkerung raus», sagt er. Eine Person meldete sich. Es blieben noch zwei Vakanzen. Also ging die Wahl an die Urne, wo die Einwohnerinnen und Einwohner selbst Personen wählen können.
Der gesamte Gemeinderat von Wassen ist parteilos. Und das ist gemäss dem Gemeindemonitoring stark verbreitet. Fast die Hälfte aller Exekutivmitglieder in den Schweizer Gemeinden gehören keiner Partei an. Der Anteil steigt kontinuierlich. Baumann sagt, das sei eine grosse Hürde: «Hätten wir aktive Parteien im Dorf, würden diese nach Kandidatinnen und Kandidaten suchen und für sie weibeln.» So bleibe die Rekrutierung allein am Gemeinderat hängen.
«Es wird schwierig»
Andreas Baumann schaut zu seiner Frau Susanne und zuckt mit den Schultern. Sie sitzen in der Küche des hellen, renovierten Bauernhauses. «Ich weiss noch nicht, ob ich Einsprache erheben werde. Bringen tuts vermutlich nichts.» Familie Baumann lebt hoch über Wassen mit seinem berühmten «Chileli», im Ortsteil Meien. Im Sommer brettern hier die teuren Boliden die Hauptstrasse hoch, um den Sustenpass zu überqueren.
Der jüngste Sohn rennt in die Küche und zupft an der Hose der Mutter. Er ist drei Jahre alt. Die anderen Kinder sind im Kindergarten oder in der Schule, das älteste ist vierzehn. «Es geht eigentlich gar nicht um mich», sagt Baumann. «Vielmehr um meine Frau, die Kinder und meinen Vater. Sie müssen einspringen, wenn ich weniger Zeit für den Hofbetrieb habe.»
Susanne Baumann schaut besorgt. «Er wird wohl viel mehr unterwegs sein. Auch ich habe meine Ämtli, das muss alles irgendwie aneinander vorbeigehen.» Und dann sind da die Kinder. «Sie dürfen nicht zu kurz kommen.»
Beim Thema Milizsystem heisst es häufig, Dorfbewohner wollten sich nicht mehr engagieren. Bei Andreas Baumann ist das Gegenteil der Fall. Er ist im Vorstand des Bauernverbands und als einziger Urner Mitglied der Landwirtschaftskammer. Er ist Vizekommandant der Feuerwehr und war kurz davor, Kommandant zu werden. «Die Gemeinde hat mir dafür sogar eine Ausbildung bezahlt. Doch das war jetzt für nichts.»
Es geht ihm nicht darum, dass er keine Verantwortung übernehmen will. Vielmehr stört es ihn, nicht selber entscheiden zu können, ob und wann er Gemeinderat wird. Und das Amt an sich sei in einer kleinen Gemeinde sehr unbefriedigend: «Der Kanton entscheidet, wir führen aus. Wir sind immer in der Defensive.» Auch habe Wassen kaum finanzielle Mittel. «Es ist natürlich schöner, Gemeinderat in Altdorf oder im reichen Zug zu sein!»
Amtspflicht: Es drohen Bussen und Strafregister bei Verweigerung
In Uri kam es schon in mehreren Gemeinden zu Amtszwängen. Gewählte zogen auch schon kurzerhand aus der Gemeinde weg, um dem Amt zu entgehen. Doch die Bevölkerung steht hinter dem Amtszwang. Zuletzt hat das Stimmvolk 2016 mit 72 Prozent einer Gesetzesrevision zugestimmt, die bei einer Amtsverweigerung eine Busse von bis zu 5000 Franken vorsieht. Auch droht Verweigerern ein Eintrag im Strafregister.
Gleichzeitig gab es minime Lockerungen. Die Amtspflicht endet im neuen Gesetz, wenn eine Person 65 Jahre alt wird. Auch kann sie das Amt seither «aus wichtigen Gründen» ablehnen, etwa wegen körperlicher Gebrechen oder wirtschaftlicher Nachteile. Und der Regierungsrat benannte das «Gesetz über den Amtszwang» in «Gesetz zur Besetzung von Behörden» um. Das vorherige Wording sei «psychologisch ungünstig» gewesen.
Massgeblich daran beteiligt war die damalige Urner Justizdirektorin und heutige Mitte-Ständerätin Heidi Z’graggen. Sie sieht im Amtszwang ein bewährtes Instrument zur Aufrechterhaltung der politischen Strukturen. Aber auch «einen Ausdruck der Solidarität und des Engagements, das eine funktionierende Demokratie erfordert».
Solidarität. Aber eben auch ein Zwang. Alles eine Frage der Perspektive.
Sollen die Gemeinden fusionieren?
Z’graggen glaubt, dass Milizämter zunehmend als unattraktiv wahrgenommen werden. Weshalb es eine «stärkere gesellschaftliche Anerkennung» brauche. Auch werden Gemeinderäte je nach Kanton sehr unterschiedlich entlöhnt, in Uri weit unter dem schweizerischen Durchschnitt. Eine Erhöhung «könnte das Amt attraktiver machen».
Und Z’graggen spricht ein Thema an, das gerade in kleinen Gemeinden sehr brisant ist: Fusionen. Diese schafften Synergien.
Andreas Baumann ist wenig begeistert davon. Auch in Wassen ist eine Fusion mit den Gemeinden Göschenen und Gurtnellen immer wieder Thema. «Ich bezweifle, dass man so einfacher Gemeinderäte findet», sagt Baumann. «Denn jetzt übernimmt man noch eher ein Amt, weil man sich mit der eigenen Gemeinde identifizieren kann.»
Oder wie es Sebastian Arnold nennt: Heimatverbundenheit. Arnold wurde 2016 in den Gemeinderat der Walliser Gemeinde Simplon gewählt – ebenfalls gegen seinen Willen. Was damals besonders war: Gleich alle fünf Gewählten hatten nicht kandidiert. Arnold wurde dann sogleich zum Gemeindepräsidenten gewählt – und ist es bis heute. Denn mittlerweile gefällt ihm sein Amt.
Als er zwangsgewählt wurde, war Arnold 30 Jahre alt. Er kam gerade vom Geomatikstudium in Muttenz BL zurück, hatte den Wohnsitz aber stets in Simplon behalten. Und war weiterhin im Dorf in den Vereinen aktiv gewesen. «Deswegen kamen sie bei der Gemeinderatswahl auf mich: à la ‹der junge, engagierte Student ist wieder im Dorf›.»
«Der Kanton muss die Randregionen mehr unterstützen»
Auch für Arnold war der Zeitpunkt ungünstig, er hatte gerade ein Unternehmen übernommen. Gleichzeitig fühlte er sich wertgeschätzt. «Offenbar hielt man mich für fähig, das Amt zu übernehmen.» Also nahm er die Zwangswahl an und suchte vor dem zweiten Wahlgang gar aktiv Mitstreiterinnen und Mitstreiter, mit denen er sich eine gute Zusammenarbeit im Gemeinderat vorstellen konnte.
«Mit dem Amtszwang schickt man sich halt irgendwie in die Aufgabe rein und lernt enorm schnell enorm viel.» Im Oktober kandidierte Arnold für seine dritte Legislatur, er wurde wiedergewählt. Und sagt heute rückblickend: «Auch mit Zwang – es ist machbar.»
Machbar, auch für Andreas Baumann? Das Zeug zum Gemeinderat habe er schon, sagt Baumann, während er durch den Schafstall läuft. «Ich bin seit zehn Jahren im Bauernverband. Das war eine sehr gute politische Schule.» Aber machbar ist es nur mit grossen Abstrichen. Indem er Ämtli aufgibt, die ihm wichtig sind. Und indem die Familie in die Bresche springt.
Gefragt danach, was denn der Kanton tun könne, damit es keine Zwangswahlen mehr brauche, wird Baumann grundsätzlich. «Der Kanton muss die Randregionen mehr unterstützen.» Kürzlich habe er sich die Vernehmlassung zum neuen kantonalen Schulgesetz angesehen. «Eine Katastrophe», findet Baumann. «Da wird viel zu viel an die Gemeinden abgestossen.»
Und wenn er dann mit der grossen Bauernfaust auf den Tisch haut, scheint der Politiker gar nicht mehr so weit weg.
Fehler gefunden?Jetzt melden.