Die 7 Knackpunkte im ViertelfinalSo zähmen wir die «Three Lions»
Wie will Murat Yakin die Engländer schlagen? Es gibt ein Foto, das vielleicht seine Antwort zeigt. Was die Schweiz beherzigen muss, um sich erstmals für einen EM-Halbfinal zu qualifizieren.
Auf Yakins Eingebung vertrauen
Von Spiel zu Spiel hat Murat Yakin seine Aufstellung leicht verändert, aber die Grundausrichtung der Mannschaft nicht komplett. Dabei darf es bleiben. Nur bitte keine Systemrevolution wie an der WM 2022 gegen Portugal. Die Schweiz mag Tennis – aber ein Tennis-Resultat an einer Fussball-Endrunde ist genug.
Die grösste Frage für den Schweizer Nationaltrainer dürfte sein, wen er als rechten Aussenspieler einsetzt. Dan Ndoye wie gegen Italien wäre die sehr offensive Variante. Fabian Rieder die unerprobte. Und Silvan Widmer die auf Papier defensiv solideste.
Es gibt ein Foto, das vielleicht die Antwort zeigt. Es stammt aus dem Freitagstraining der Schweizer. Yakin, wie er sich über ein Blatt Papier beugt, auf dem mit etwas Vergrössern eine Aufstellung zu lesen ist. Es ist exakt dieselbe wie schon gegen Italien. Es ist die offensive Variante mit Ndoye.
Unbedingt mutig spielen
Es gibt im Fussball immer mal wieder ein Missverständnis, wenn es um das Wort «Mut» geht. Viele denken, dass nur ein angreifendes Team mutig spielt. Es nimmt ja schliesslich das Risiko auf sich, ausgekontert zu werden.
Aber Teams können durchaus auch mutig verteidigen. Wie das aussieht? Die Schweizer haben es beim 1:1 gegen Deutschland gezeigt. Da haben sie die Deutschen immer wieder bei deren Ballbesitz früh und sehr hoch angegriffen. «Mannorientiert» heisst das im Fachsprech. Die Schweizer sind aus ihren Abwehrlinien gestochen, um ihre Gegenspieler im Eins-gegen-eins unter Druck zu setzen.
Das ist ein Risiko, weil riesige Löcher entstehen können, wenn nur ein Spieler ausgedribbelt wird. Remo Freuler passiert das gegen Jamal Musiala in der zweiten Minute. Und schon brennt es im Schweizer Strafraum.
Aber es ist ein Risiko, das sich lohnen kann. Die Schweizer Führung gegen Deutschland entsteht genau so: Granit Xhaka attackiert Musiala, der darauf den Ball an Rieder verliert. Am Ende trifft Dan Ndoye zum 1:0.
Ähnlich mutig müssen die Schweizer gegen England auftreten. Dass es die Engländer nicht besonders mögen, wenn sie hoch gepresst werden, hat man gegen die Slowakei gesehen. Zieht man sich aber zu sehr zurück, kann eine Sekunde Unachtsamkeit im Strafraum reichen, um Ausnahmekönnern wie Jude Bellingham oder Harry Kane ein Tor zu ermöglichen.
Und wenn den Schweizern dann auch noch eine auch nur annähernd gute Ballzirkulation wie vor dem 1:0 gegen Italien gelingt, dürften die Engländer recht rasch recht genervt sein.
Klar ist, dass die Schweizer bislang im Zentrum mit Manuel Akanji, Granit Xhaka und Remo Freuler fast unüberwindbar wirken. Yakins Aufgabe ist es, mögliche Löcher auf den Seiten zu stopfen, damit die Engländer nicht bis auf die Grundlinie kommen.
Bloss nichts falsch einschätzen
Vor dem Achtelfinal am vergangenen Samstag gelang Fabian Rieder der wunderbare Satz: «Man darf Italien nicht unterschätzen.» Die Schweiz gewann 2:0.
Vor dem Viertelfinal gibt es erst recht keinen Grund, den Gegner zu unterschätzen. Dieser heisst nicht wie in der Qualifikation Weissrussland oder Andorra, er heisst immerhin England und liegt in der Fifa-Weltrangliste auf Platz 5, während die Schweiz Platz 19 belegt.
Natürlich haben die Engländer bisher ziemlich mau gespielt und sind gegen die Slowakei ein paar Sekunden vor dem Ausscheiden im Achtelfinal gewesen. Die Kanes und Bellinghams sind in diesem Turnier viel schuldig geblieben. Aber die Spieler haben eben noch immer die Qualität eines Kane und eines Bellingham, und was das bedeutet, lässt sich gut gegen die Slowakei erkennen: Als es brannte, waren genau die beiden da, Bellingham per Fallrückzieher, Kane per Kopf. Das ist Klasse, die Warnung genug ist.
Auf der anderen Seite gibt es nicht den geringsten Grund für die Schweizer, sich selbst zu überschätzen. Natürlich haben sie Deutschland widerstanden und Italien dominiert, natürlich fallen die Kritiken teilweise überschwänglich aus. Darum wird von herausragender Bedeutung sein, dass ihnen das nicht die Sinne vernebelt. In dieser Beziehung sind in erster Linie die Leader gefragt, Yann Sommer, Manuel Akanji und Granit Xhaka. Und wer sie bisher erlebt hat, kann nicht daran zweifeln, dass sie ihre Vorbildwirkung kennen.
Embolo muss Embolo sein
Einen Preis wird es für diesen Liedtext nicht geben. Ist auch nicht nötig. Hauptsache, Breel Embolo hat zur Musik von «The Lion Sleeps Tonight» seinen Song. An der EM 2016 haben die Fans gedichtet: «I de Nati, de Schwizer Nati, do isch de Breel dihei, o Embolo, o Embolo ...»
Seither sind bei Embolo abseits des Platzes ein paar Eskapaden dazugekommen. Trotzdem ändert das nichts an seiner Popularität. Und erst recht nicht ändert das etwas an seiner Wichtigkeit für die Mannschaft. Murat Yakin erhebt ihn in den Status des «Unverzichtbaren», Granit Xhaka erklärt ihn zum «Goldjungen», und Blerim Dzemaili, der heutige TV-Experte, sagt: «Embolo macht den Unterschied.»
Embolo erzielte als Ersatzspieler ein Tor gegen Ungarn, er erzielte eines gegen Schottland, das allerdings nicht zählte, er kehrte gegen Deutschland in die Startformation zurück und kratzte sich gegen die Recken Tah und Rüdiger fest. Er war auch gegen Italien in vorderster Reihe unterwegs. Und alles, was er machte, war von grosser körperlicher Intensität. Auch wenn man sich ihn ab und zu spielerisch gelassener wünschte.
Diesen Embolo, den furchtlosen Kämpfer, der viele Meter macht, oft auch vergebens, der die Bälle verteidigt, damit die Kollegen nachrücken können – diesen Embolo braucht es gegen England. An seiner Bereitschaft wird es ihm nicht fehlen. Dafür bürgt er nur schon mit seinem Namen.
Auf England bauen
Die englischen Medien sind gnadenlos. «Sein grösstes Problem ist, er hat an dieser EM vergessen, dass er kein sehr guter Trainer ist», hat der «Guardian» über den englischen Nationalcoach Gareth Southgate geschrieben.
Spieler und Trainer bekommen sehr wohl mit, wie hart ihre bisherigen Leistungen im Turnier zu Hause kritisiert werden. Möglich, dass sich ein Bellingham davon wenig beeindrucken lässt. Andere Spieler wirken verunsichert – oder schlicht genervt.
Gegen die Slowakei hatten nach fünf Minuten schon fast alle Engländer einmal die Hände verworfen, um ihrem Missfallen über irgendetwas Ausdruck zu verleihen. Das darf gegen die Schweiz gern so bleiben.
Gleichzeitig ist England noch immer mit dem Selbstvertrauen des Favoriten unterwegs. «Wer sonst?», hat Bellingham nach seinem Traumtor in die Kameras gesagt. Danach erklärte er, das Drehbuch seines Turniers schreibe er ganz allein. Der Kipppunkt zur Überheblichkeit ist nah. Gegen die Schweiz darf er gern überschritten werden.
Die zentralen Duelle gewinnen
Es ist wie immer bei grossen Spielen: Es gibt die wegweisenden Duelle. Nehmen wir nur zwei, die zwei prominentesten: Akanji vs. Kane und Xhaka vs. Bellingham.
Akanji gegen Kane: Das ist das Duell der Ruhigen, der Kontrollierten, der Erste mit zwei Platzverweisen in der gesamten Karriere, der Zweite mit einem. Was sie trennt: Akanji gewinnt die Titel, denen Kane auch bei Bayern München vergebens nachrennt. Akanji zieht daraus ein Selbstvertrauen, das ihn durch diese EM schweben lässt. Und das sorgt dafür, dass er erst recht keine Angst vor Kane hat.
Xhaka gegen Bellingham: Das ist das Duell der Überflieger, der eine gewann mit Leverkusen das Double, der andere mit Real Madrid Meisterschaft und Champions League. Das würde heissen: Vorteil Bellingham. Aber Xhaka ist einer der Spieler dieses Turniers, der allerbesten sogar, anders als Bellingham. Und wenn er die Kreise von Bellingham entscheidend stören kann, hat die Schweiz schon viel gewonnen – weil Bellingham eben trotz allem so viel Qualität hat, dass er nur diesen einen Moment braucht, um einem Gegner wehzutun. Siehe den Fallrückzieher gegen die Slowakei.
Hoffen, dass die Sterne günstig stehen
Damit ein Land mit etwas unter neun Millionen Einwohnern in den Halbfinal eines grossen Turniers einzieht, muss alles zusammenkommen. Tolle Leistungen – und der richtige Lauf der Gestirne. Es braucht einen Pfosten, der wie gegen Italien am richtigen Ort steht, damit Fabian Schär kein Eigentor erzielt. Es braucht einen Geniestreich wie von Xherdan Shaqiri gegen Schottland oder Ruben Vargas gegen Italien. Und es braucht einen Schiedsrichter wie Daniele Orsato, der wie gegen Deutschland dem Gegner ein Tor aberkennt und ihm dafür zwei Elfmeter nicht gibt.
Und wer pfeift das Spiel zwischen England und der Schweiz? Daniele Orsato. Wenn das kein Omen ist.
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