EM: Starker Schweizer AuftrittIn der 92. Minute platzt der Traum gegen Deutschland
Bis tief in die Nachspielzeit liegen die Schweizer in Frankfurt gegen Deutschland 1:0 in Führung – erst ein Kopfball Füllkrugs führt zum 1:1. Was ihnen bleibt, ist die sechste Qualifikation für einen Achtelfinal in Folge.
Sekunden sind es nur, die zum ganz grossen Coup fehlen. 1:0 liegen die Schweizer in ihrem dritten Gruppenspiel vorne, 1:0 gegen Deutschland. Und das bedeutet, dass sie so gar als Erster die Vorrunde abschliessen würden.
Aber eben, dann fliegt die vielleicht 50. oder 51. Flanke in den Schweizer Strafraum, als Niclas Füllkrug hochsteigt und zum Ausgleich trifft. Die 92. Minute läuft da, egalisiert ist die Schweizer Führung durch Dan Ndoye aus der ersten Halbzeit.
Gleichwohl dürfen die Schweizer stolz auf sich sein, sie haben dem Favoriten einen heroischen Kampf geliefert. Und ein schöner Lohn bleibt auch: Am Samstag bestreiten sie in Berlin gegen den Zweiten der Gruppe B den Achtelfinal, ihren sechsten in Folge seit 2014.
Angerichtet ist es gewesen für ein weiteres Fest an dieser EM, diesmal in Frankfurt unter geschlossenem Dach und auf seifigem Rasen. In der zweiten Minute lässt sich Remo Freuler von Jamal Musiala an der Seitenlinie ziemlich leicht abschütteln, das lässt nichts Gutes erahnen für die Fortsetzung. Immerhin kann Fabian Schär gegen Ilkay Gündogan in Corner retten.
Die Deutschen bleiben überlegen, und als die zwölfte Minute läuft, haben die Schweizer ein erstes Mal so richtig Glück. Weder Schiedsrichter noch VAR bestrafen Schär dafür, dass er im Sechzehner Kai Havertz auf den Fuss tritt.
Bald zeigt sich, wie sehr Daniele Orsato und der VAR den Schweizern wohlgesinnt sind. Bis es so weit ist, liegt der Ball in ihrem Tor. Robert Andrich hat aus 25 Metern unbehelligt schiessen dürfen, gegen seinen Aufsetzer kann Yann Sommer nichts ausrichten, weil er bei seiner Abwehraktion sehr unglücklich aussieht, um es einmal freundlich zu sagen. Deutschland jubelt, die Schweiz dagegen reklamiert: Michel Aebischer soll kurz vor Andrichs Tor von Musiala gefoult worden sein.
Der VAR zitiert Orsato zum Studium der Bilder an die Seitenlinie. Und Orsato erkennt auf Foul. Auch da handelt er sehr grosszügig im Sinn der Schweizer. Das Goal wird annulliert, und gestrichen ist damit der Tolggen im Reinheft von Sommer.
Die Schweizer, im Vergleich zum Schottland-Spiel neu mit Breel Embolo für Xherdan Shaqiri und Fabian Rieder für Ruben Vargas auf dem Platz, haben es bis dahin nicht leicht gehabt, sich aus der Abwehr zu lösen. So sehr haben ihnen die Deutschen die Räume verstellt. Aber nach dem VAR-Urteil sehen sie auf einmal besser aus. Sie verteidigen geschickt, indem sie die Dreier- zur Fünferkette ausbauen und das dazu nutzen, dass jeweils aus dem Verbund einer nach vorne sticht, um einen Gegner zu attackieren. Das machen sie gut und diszipliniert, angefangen bei Manuel Akanji, dem strategisch handelnden Abwehrchef.
Im Mittelfeld hat Granit Xhaka wieder deutlich mehr Einfluss als noch gegen Schottland. Das liegt natürlich daran, dass die Deutschen keinen Bedarf sehen, ihn auf dem ganzen Platz in Manndeckung zu nehmen.
Ndoyes Premiere
Und dann kommt diese Szene, die Deutschland, den vermeintlich grossen Turnierfavoriten, mitten ins Herz trifft. Freuler bringt den Ball von links zur Mitte, und da kommt Dan Ndoye herangestürmt, ist schneller als Jonathan Tah und bezwingt Manuel Neuer aus wenigen Metern. Es ist wahrlich kein schlechter Zeitpunkt für Ndoye, um bei seinem 14. Einsatz für die Schweiz sein erstes Tor zu erzielen.
Das 0:0 hat bis dahin geheissen, dass sich die Schweizer den zweiten Gruppenplatz und den Achtelfinal am Samstag in Berlin aus eigener Kraft sichern. Das 1:0 bedeutet für sie nun gar, dass sie so die Gruppe als Erster abschliessen und am Samstag in Dortmund den Achtelfinal bestreiten würden. So verrückt ist das in diesen Tagen mit dieser Mannschaft, die mit einem 3:1 gegen Ungarn und einem 1:1 gegen Schottland ins Turnier gestartet sind.
Michel Aebischer lanciert Ndoye, jener Aebischer, der in den ersten Minuten diverse Bälle fahrlässig verloren hat. Ndoye, aufgeputscht durch seinen Treffer, überfordert Tah und setzt zum Torschuss an. Der Ball fliegt nur um einen Hauch am Pfosten vorbei.
Die letzten Minuten vor der Pause zeigen allerdings, dass sich die Schweizer keine Nachlässigkeiten leisten dürfen. Rodriguez verschuldet ohne jede Not einen Corner, am Ende landet der Ball am hinteren Pfosten bei Antonio Rüdiger. Sein Kopfball fällt für einen Champions-League-Sieger sehr harmlos aus. Gleich darauf verliert Embolo einen Ball, schon wieder tut er das. Musiala kann losziehen, aber Havertz schlägt keinen Profit daraus.
Nach der ersten Halbzeit haben die Deutschen deutlich mehr Ballbesitz, 66:34 Prozent, und deutlich mehr Pässe, 345:135. Nur liegen die Schweizer da vorne, wo es zählt, bei den Toren.
Mit der Fortdauer des Spiels halten die Deutschen den Druck permanent hoch. Eine Niederlage können sie sich nicht leisten, um in ihrem Selbstverständnis nicht erschüttert zu werden. Also lancieren sie Angriff um Angriff, und die Schweizer verteidigen Tor und Vorsprung, ohne allerdings selbst kaum einmal zu Momenten der Entlastung fähig zu sein.
Kämpfen bis zum Umfallen
Was ihnen zugute zu halten ist: Bei aller Überlegenheit des Gegners ist Sommer kaum einmal wirklich geprüft. Als er einen Ball von Musiala nach vorne abprallen lässt, verzieht Gündogan den Nachschuss um Meter. Als Kroos aus bester Position schiessen kann, landet sein Ball ebenfalls gleich um viele Meter neben dem Tor.
Murat Yakin reagiert nach 65 Minuten mit einem dreifachen Wechsel, er bringt Kwadwo Duah, Ruben Vargas und Zeki Amdouni für Ndoye, Embolo und Rieder. Die ganze Offensive ist damit also neu besetzt. Sekunden später geht Xhaka gegen Musiala so zu Werke, dass selbst dem Schweiz-freundlichen Orsato nichts anderes übrig bleibt, als ihn zu verwarnen.
Wirtz dribbelt in seiner besten Szene Aebischer aus, Kimmich schiesst aus kurzer Distanz, und dann ist es Akanji, der mit dem langen Bein mirakulös rettet. Dass Widmer gegen Beier mit beiden Armen zu Boden reisst, bleibt ungeahndet. Leroy Sanés Schuss fliegt an der hinteren hohen Ecke vorbei. Die Schweizer kontern, Vargas schliesst den Angriff wunderbar ab. Nur steht er im Abseits.
Und dann kommt die 92. Minute und Füllkrug.
Nachfolgend der Ticker zum Nachlesen:
17’ Tor für Deutschland
Andrich zieht aus der Distanz ab und bezwingt Sommer. Deutschland führt.
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Deutsche fordern Penalty
Der deutsche Stürmer Havertz wird vor dem Tor angespielt, Rodriguez eilt heran. Der Schweizer trifft den Ball und den Gegner, dann stösst auch noch Schär Havertz um. Der Schiedsrichter lässt weiterspielen. Und der VAR greift nicht ein.
Eine taktische Anpassung von Yakin?
Kollege Raz meldet aus dem Stadion: Auffällig bei den Schweizern: In der Abwehrarbeit gehen sie nicht in eine Fünferkette. Stattdessen spielen sie mit einer Viererkette. Meist rückt Widmer rechts zurück – und Rodriguez geht nach links aussen. In den Spielen gegen Ungarn und Schottland wurde aus der Dreierkette im Spiel gegen den Ball eine Schweizer Fünferkette.
10’ typischer Ndoye
Ndoye erobert sich den Ball und spielt dann… einen Fehlpass. Das ist das grosse Manko des blitzschnellen Flügels. Schade, das hätte eine gute Chance werden können.
Deutschland beginnt standesgemäss
Über 80 Prozent Ballbesitz – so viel weisst die Statistik nach bald zehn Minuten für den Gastgeber aus. Aber gefährlich ist es seit der Chance von Havertz nicht mehr geworden.
Mann für die grossen Spiele
Für Fabian Rieder ist es erst das achte Länderspiel für die Schweiz. Und erst das zweite von Beginn an. Den ersten Startelf-Einsatz erlebte er an der WM gegen Brasilien, den zweiten hier und jetzt.
4’
Im Gegenzug holt Ndoye den ersten Eckball für die Schweizer heraus. Dieser bleibt ohne Ertrag. Wir sehen einen temporeichen Beginn.
3’ erste Chance Deutschland
Nach dem Corner kommt Havertz zum Kopfball. Yann Sommer greift zu.
2’
Tempodribbler Jamal Musiala gibt eine erste Kostprobe seines Könnens. Er lässt gleich mehrere Schweizer stehen und lanciert Gündogan. Schär kann gerade noch klären. Corner für Deutschland.
1’ Anpfiff
Das Spiel beginnt. Es geht um nichts weniger als den Gruppensieg. Wir sind enorm gespannt.
Nach den Hymnen: Punkt für Deutschland!
Das schien recht stimmungsvoll bei der Schweizer Hymne. Aber natürlich geht dieser Punkt an die Fans des Heimteams.
Die Teams betreten den Rasen
Die Mannschaften sind endlich da und stellen sich auf. Es folgen die Nationalhymnen.
Ein grosses Spiel – gerade wegen des schlechten Rasens?
Kollege Raz meldet aus dem Stadion: Neun Männer sind auf dem Rasen, um das zu reparieren, was allein schon beim Einspielen kaputt gegangen ist. Da sind bereits erstaunlich viele Schollen rausgebrochen, obwohl beide Nationalteams auf das Einüben von Blutgrätschen verzichtet haben. Aber hey, vielleicht hält der Rasen heute Abend ja weit mehr als er verspricht. Und manchmal, da macht ein schlechter Rasen aus einem Fussballspiel ein ganz besonderes Erlebnis. Ich mag mich da an ein 4:5 des FC Luzern gegen den FC Basel im Ersatzstadion Gersag erinnern, als die Spieler praktisch bis zu den Knien im Schlamm versunken sind – und das Spiel ein einziges, opulentes Gemälde war.
Das sagt Yakin:
Der Schweizer Trainer sprach soeben bei SRF über die drohenden Sperren für einige seiner Spieler. Rodriguez, Freuler und Widmer sind vorbelastet, bei einer weiteren Gelben Karte fehlen sie im Achtelfinal gesperrt. Trotzdem stehen sie in der Startaufstellung. Yakin sagt: «Wir schauen von Spiel zu Spiel. Diese Spieler sind erfahren genug, um mit dieser Ausgangslage umgehen zu können.»
Zur Nominierung von Fabian Rieder sagt er: «Er spielt mit einer grossen Intensität, ist lauffreudig. Er soll sich zwischen den Linien bewegen und auch in der Offensive Akzente setzen.»
Wird der Rasen erneut zum Ärgernis?
Der Rasen im Frankfurter Stadion ist ein Problemfall. Bei den letzten Partien lösten sich immer wieder grössere Stücke, das Spiel wurde für die Fussballer teilweise zur Rutschpartie. Auf dem Rasen spiele es sich, «als ob man im Winter mit Sommerreifen unterwegs wäre», sagte Trainer Nagelsmann. Dass der Ball verspringen kann, ist ihm weniger wichtig. «Ich habe Angst um die Gesundheit der Spieler», sagte er weiter. Und ist ganz guter Gastgeber: «Auch um die der Schweiz.»
Kollege Raz meldet: Geschlossenes Dach. Es war heute in Frankfurt warm und weitgehend sonnig. Auch für heute Abend sind keine Niederschläge angesagt. Trotzdem ist das Dach im Stadion heute geschlossen. Warum? Ich weiss es leider nicht. Dabei hätte der Rasen doch offenbar jeden Sonnenstrahl nötig, den er bekommen kann.
Schweizer Fans stehen vor Kraftakt
Kollege Raz meldet aus dem Stadion: Die Schweizer waren gegen Ungarn in der Mehrheit. Gegen Schottland war es von den Fans her im Bereich von 40 zu 60 Prozent und beim Lautstärkevergleich bei den Nationalhymnen 115 zu 155 Dezibel (nicht wissenschaftlich gemessen). Heute ist der rote Sprenkel in der klaren Minderheit. Es wird vom Spielverlauf abhängen, ob der Schweizer Anhang heute zu hören sein wird.
Trainer Yakin macht die Welle mit den Schweizer Fans
Es hat schon fast Tradition an dieser EM. Immer vor den Spielen lässt sich Trainer Yakin von den Fans feiern, ganz der Mann des Volkes eben.
Eindrücke aus Frankfurt
Kollege Raz meldet aus dem Stadion: Die Hinfahrt zum Stadion ist auch heute für einige ein Abenteuer. Eben hat uns ein deutscher Kollege geschildert, wie er im Frankfurter Hauptbahnhof dreimal den Zug gewechselt hat, der ihn zum Spiel hätte bringen sollen. Reisezeit normalerweise: fünf Minuten. Heute gerne auch mal eineinhalb Stunden. Die meisten scheinen es jetzt allerdings ins Stadion geschafft zu haben. Es sind nur noch ganz wenige Plätze frei.
Und eben ist die deutsche Nationalmannschaft auf den Rasen gekommen. Es wird schon ordentlich laut. Und die Schweizer werden ausgepfiffen, als sie ebenfalls aufs Feld kommen. Das ist jetzt eher nicht so gentlemen-like.
So hätten Sie aufgestellt:
Wir fragten: Wer soll heute für die Schweiz auf dem Platz stehen? Sie sehen es anders als Yakin, wie die Auswertung ergeben hat. Laut Ihnen hätte die Schweiz in einem 3-4-3 beginnen sollen, auch Sie hätten auf Shaqiri verzichtet – und dafür auf Duah vertraut.
Sommer; Schär, Akanji, Rodriguez; Widmer, Aebischer, Xhaka, Vargas; Ndoye, Embolo, Duah.
Rieder und Embolo für Vargas und Shaqiri
Trotz seines Traumtors gegen Schottland muss Shaqiri auf der Bank Platz nehmen. Dazu nimmt Trainer Murat Yakin im Vergleich zum 1:1 einen weiteren Wechsel vor, er gibt Fabian Rieder nach zwei Teileinsätzen an dieser EM erstmals die Chance von Beginn an. Breel Embolo gibt wie erwartet die Sturmspitze, auch für ihn ist es an der EM die Premiere in der Startaufstellung.
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