Das Risiko von Helfern und RetternSchutzlos an die Front
In Italien sind schon 66 Ärzte an Corona gestorben, Tausende Pfleger haben sich bei der Arbeit infiziert. Warum das nur bedingt mit Schicksal zu tun hat.
An der Fassade des Krankenhauses Giovanni XXIII in Bergamo hängt ein riesiges Plakat der Region Lombardei, entworfen hat es der Künstler Franco Rivolli. Es deckt drei Stockwerke ab. Man sieht darauf eine junge Krankenpflegerin mit Schutzmaske, im Arm trägt sie Italien, den Stiefel in den drei Nationalfarben. Sie wiegt ihn wie ein Neugeborenes. Dazu der Slogan: «A tutti voi . . . Grazie!» Das Plakat ist ein Dank der lombardischen Regionalverwaltung an die Ärzte und Pfleger. Es ist zur Ikone geworden, ein Brandmal im kollektiven Gedächtnis.
In dieser Viruskrise, die den Norden Italiens so dramatisch unvorbereitet traf, wird in den Medien und von der Politik oft die Kriegssprache bemüht. Das soll den Durchhaltewillen aller schärfen. Die Ärzte und Pfleger sind darin wahlweise «Soldaten an der Front», «Helfer im Schützengraben» oder einfach «le prime linee», die ersten Linien. Helden dieser Zeit. Die Medien zeigen ihre müden Gesichter, aufgenommen nach langen Schichten. Man beklatscht ihren Mut auf den Balkonen – und hofft, dass man ihnen nie im Dienst begegnet.
«Gefallener der Arbeit»
Diese Helden bezahlen einen hohen Preis. In Italien sind bisher 66 Ärzte an Corona gestorben: Hausärzte, Pneumologen, Notfallärzte, Virologen, Onkologen, Kardiologen, Oberärzte, Anästhesisten, Kinderärzte, Infektologen, auch Zahnärzte. In den grossen italienischen Zeitungen wird ihr Tribut jeden Tag aufdatiert, als vergewissere man sich der verbliebenen Truppenstärke. Und immer erzählen die Blätter in kurzen Porträts aus dem Leben der Ärzte, die das Gesellschaftsleben in ihren Gemeinden mitgeprägt hatten, in Bergamo, Brescia, im Lodigiano.
Gestorben ist auch Diego Bianco, der die Ambulanzwagen im Giovanni XXIII koordiniert hatte zu einer Zeit, als sie ständig neue Kranke mit dem Virus brachten: rein und raus, alle paar Minuten. Er steckte sich an. Es ging ganz schnell, nach zwei Tagen starb er, zu Hause in der Quarantäne. Diego Bianco war 46 Jahre alt. «L’Eco di Bergamo» berichtet, die Unfallversicherung habe ihn als «Gefallenen der Arbeit» klassiert. Die Familie erhält Entschädigungen, als wäre er auf einer Baustelle von einem herabstürzenden Betonstück getroffen worden.
«Wir wollen nicht als Helden gelten.»
Doch Fatalismus erklärt nicht alles. Seit Beginn der Krise haben sich in Italien 8000 Sanitäter angesteckt. Die Krankenhäuser im Norden waren völlig überfordert, als sich die Infektionsfälle Ende Februar plötzlich explosionsartig häuften. Manche Kliniken, so weiss man heute, waren selbst Infektionsherde – etwa das Krankenhaus in Codogno bei Lodi und jenes in Alzano Lombardo bei Bergamo. Womöglich während mehrerer Wochen. Hätte nicht eine Ärztin in Codogno am 21. Februar die Idee gehabt, den nun als «Patient eins» bekannten Mattia auf das neuartige Coronavirus zu testen, wäre es vielleicht noch länger unentdeckt geblieben. Und als dann klar war, dass man sich schon mitten in einer Epidemie befand, fehlte es nicht nur an Beatmungsgeräten für die Intensivfälle, sondern auch am Nötigsten für das Personal: Schutzanzüge und Schutzmasken mit brauchbaren Filtern, FFP2 oder FFP3. Die Soldaten waren selbst schutzlos.
«Wir wollen nicht als Helden gelten», sagte Filippo Anelli, der Präsident des italienischen Ärzteverbands, neulich dem «Corriere della Sera». Viel wichtiger sei es, dass die Ausrüstung der Ärzte und Pfleger auf der Höhe der Gefahren sei, denen sie begegneten, «und auf der Höhe eines industrialisierten Landes», wie er es nannte. Viele steckten sich an, weil es nur die grünen Einwegmasken gab, die sonst Chirurgen tragen. Gegen das Virus bringen die nichts.
«Indiana Jones» in Pension
In der Not sind nun in kurzer Zeit zwei neue Krankenhäuser entstanden, eines im alten Messekomplex in Mailand, eines auf dem Messegelände von Bergamo. Beide in Rekordzeit. «Schneller als in Wuhan», sagte der Gouverneur der Lombardei. Vielleicht wären diese Ad-hoc-Kliniken nicht nötig gewesen, wenn es in der wohlhabenden Region auch eine adäquate Zahl an Intensivbetten gegeben hätte. Es gab aber nur 740, viele waren weggespart worden. Nun gelang es, die Zahl in einigen Wochen fast zu verdreifachen.
Für den Bau des neuen Krankenhauses von Mailand wurde Guido Bertolaso aus dem Ruhestand in Südafrika geholt. Der langjährige frühere Chef des nationalen Zivilschutzes trägt viele Spitznamen, einer davon ist «Indiana Jones». Tausend Notfälle hat Bertolaso gelöst oder wenigstens begleitet in seiner Karriere. Als er in Italien landete und mit seinem kleinen Rollkoffer schnellen Schritts den Ankunftsterminal durchmass, filmte ihn ein Fernsehteam: Der Retter auf patriotischer Mission gehörte zur Gefährdungsgruppe, er ist 70 Jahre alt. Nach wenigen Tagen steckte sich Bertolaso mit Corona an, musste ins Krankenhaus eingeliefert werden. Sein Zustand erlaubte es ihm gerade so, über Skype die Arbeiten zu verfolgen. Als sie nun die Klinik einweihten, liess Bertolaso ausrichten: «Versprechen gemacht, Versprechen eingelöst! Ich bin stolz, Italiener zu sein. Wenn das Vaterland ruft, dann bin ich da.»
Fehler gefunden?Jetzt melden.