Schatzsuche zwischen Himmel und ErdeWas in Zürcher Kirchturmspitzen steckt
Der Geschichtsprofessor Beat Kümin beschäftigt sich mit Dokumenten und Objekten, die in Turmkugeln versteckt sind. Zürich ist dabei ein Hotspot.

Beat Kümin ist gerade auf Schatzsuche. Und er wird fast jeden Tag fündig. Der Historiker widmet sich nämlich einer Quellenart, die zwar seit Jahrhunderten existiert, aber bisher kaum Beachtung findet.
Diese Fundstücke befinden sich zwischen Himmel und Erde, in den meist vergoldeten Kugeln, die hoch oben auf Kirchtürmen, manchmal auch auf anderen bedeutenden Gebäuden wie Rathäusern und Stadttoren angebracht sind.
Die Kugeln, auch Knäufe oder Knöpfe genannt, können einen Durchmesser von bis zu eineinhalb Metern haben und mehrere Hundert Kilo schwer sein. Geöffnet werden können sie nur, wenn der Kirchturm renoviert wird.

Kümins Schatzsuche ist auf den ersten Blick allerdings wenig abenteuerlich. Er hat nämlich selten die Gelegenheit, dabei zu sein, wenn eine solche Turmkugel geöffnet wird.
Deshalb durchforstet er alle möglichen Informationsquellen nach Nachrichten darüber. Staats- oder Pfarreiarchive, Notizen von Denkmalpflegen, Lokalzeitungen. Und was er dort entdeckt, ist oft ziemlich aufregend.
Beat Kümin entstammt einer Familie mit Wurzeln in Freienbach, verbrachte seine frühen Jahre in Zürich und hat in Bern und Cambridge studiert. Heute ist er Professor für europäische Geschichte der Frühen Neuzeit an der renommierten University of Warwick in England.

Er erinnert sich gut, wie er das erste Mal auf das Thema Turmkugeln stiess. Es war vor gut zehn Jahren, als er an seiner Habilitation arbeitete.
Dabei stiess er auf ein Dokument aus dem Jahr 1655, das 1983 bei der Renovierung der Turmkugel in Gersau zum Vorschein gekommen war. «Ich dachte damals, dass es sich dabei um ein Kuriosum handelt», erzählt er.
Forschungsaufenthalt in Zürich
Doch einmal auf dieses Phänomen aufmerksam geworden, begegneten ihm immer wieder Botschaften an die Nachgeborenen in Turmkugeln.
Seit letztem Sommer nutzt er ein Stipendium der Gerda-Henkel-Stiftung, um dem Phänomen systematisch nachzugehen. Dafür forschte er auch drei Wochen im Grossraum Zürich.
Bereits insgesamt 1300 Funde
Unterdessen hat er insgesamt rund 1300 mit Einlagen bestückte Turmkugeln dokumentiert. Diese Tradition beschränkt sich weitgehend auf den deutschsprachigen Raum – historisch gesehen auf die Gegenden, die einst zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gehörten, das sich im Mittelalter formierte und 1806 unterging.
Einen der Hotspots bildet dabei die Region Zürich. Allein in den drei Wochen, die er im Oktober in Zürcher Archiven verbrachte, entdeckte er zu den ihm bereits bekannten Standorten 21 für ihn neue. Er hat nun 63 in der Datenbank. Mit rund 80 sind es im Kanton Luzern noch etwas mehr.
Das älteste Dokument überhaupt
Die Stadt Zürich sticht dabei gleich dreifach heraus: Sie bietet das bisher älteste bekannte Turmkugel-Manuskript überhaupt, die längste Reihe von Einlagen über Jahrhunderte hinweg – und eine der kuriosesten Beigaben.
Das älteste dokumentierte Schriftstück, auf das er bei seinen Recherchen stiess, wurde 1467 für die Kugel verfasst, die sich auf dem Turm des Alten Einsiedlerhofs befand. Heute steht an seiner Stelle das Zunfthaus zur Meisen.
In dem Dokument wurden der damalige Zustand des Klosters Einsiedeln sowie die Namen der Zürcher Behörden und der Mitglieder des Fraumünsters aufgeschrieben. Noch frühere sprachliche Nachrichten gibt es lediglich auf Metallplatten.

In der Turmkugel, die zwischen Helmspitz und Wetterfahne der Pfarrkirche St. Peter eingefügt ist, sind bei der letzten Öffnung im Jahr 1996 zahlreiche Dokumente und Objekte aus achtzehn verschiedenen Einlageterminen gefunden worden. Eine längere Reihe ist ihm bisher nicht bekannt.
Die älteste, eine Bleiplakette, stammt aus dem Jahr 1425. Im Jahr 1780 hatte Johann Caspar Lavater (1741–1801) ein eigens für diese Kugel verfasstes Gedicht hineingelegt. Es beginnt mit den Worten: «So hoch bin ich emporgestellt/Bin gross und scheine klein/Bin allzeit offen aller Welt/Und allzeit doch allein.»
Eine Schildkröte beim Fraumünsterturm
Eines der seltsamsten hinterlegten Objekte, die Kümin bisher begegnet sind, befand sich in der vergoldeten Kugel des Fraumünsterturms: der Panzer einer Sumpfschildkröte.
Er wurde laut der Archivarin Esther Nievergelt wahrscheinlich 1846 dort deponiert, nachdem ein Blitz in den Turm eingeschlagen und die Kugel beschädigt hatte.
Dieser Blitz könnte auch gleich die Erklärung für dieses seltsame Objekt liefern: der Panzer als Schutzsymbol. Er sollte die Kirche und die Gläubigen vor weiterem Unglück bewahren.
Überraschungen garantiert
Neben der Schildkröte im Fraumünster gibt es auch andernorts Seltsames zu entdecken. Zigaretten, Lebensmittelmarken … «In praktisch jeder Kugel mit Inhalt findet sich eine grössere oder kleinere Überraschung», sagt Beat Kümin. «Sei es im Text oder den Beilagen.»
Am häufigsten sind chronistische Berichte, wie Kümin in einer ersten Studie zu den «Nachrichten an die Nachwelt» ausführt. Dabei handelt es sich oft um simple Verzeichnisse der gerade aktuellen Behörden oder am Bau beteiligten Personen.
Manchmal werden aber auch die Kosten von Getreide, Wein und Vieh oder politische Strömungen festgehalten. Solche Informationen sind dann weit über das Lokalpolitische hinaus aussagekräftig.
Zuweilen sind auch ausführliche Beschreibungen von Ereignissen darunter, die die Menschen beschäftigten. Überschwemmungen, Kriege oder Missernten.
Eine Art Erinnerungsspeicher
Solche Überlieferungen sind aus mehreren Gründen faszinierend: «Sie sind eine Art Memory-Booster», sagt Kümin. Erinnerungsspeicher also, die abbilden, was die Menschen für erinnerungswürdig erachten.
Zudem könne freier formuliert werden, weil die Autoren – Autorinnen gibt es kaum je – von einer längeren Sperrfrist ausgingen. «Die bei sonstigen öffentlichen Verlautbarungen gebotene Vorsicht fiel damit weniger ins Gewicht.»
Hetzrede des Kilchberger Pfarrers
So zog der Kilchberger Pfarrer Hans Jacob Baumann 1887 in einem Bericht, den er der Turmkugel anvertraute, über die «die sozialen Wühlhuber», womit er wohl linke Unruhestifter meint, vom Leder, die über das sonst stille Volk Verderben bringen möchten.
Offen predige man, in Zeitungen und mündlich, den Aufruhr gegen jegliche Ordnung, «und träumt von sozialen Phantastereien». Er schreibt auch gleich, was er darunter versteht: «z. B. achtstündiger Arbeitstag».
Streich des Sigrists von Eglisau
Neben den offiziellen, meist von lokalen Eliten verfassten Berichten finden sich gelegentlich heimliche Ergänzungen. Etwa vom Sigrist in Eglisau, der 1594 offenbar den Eindruck hatte, dass der Pfarrer seine eigenen Verdienste zu stark in den Vordergrund rücke. Deshalb notierte er am Rande ein paar Notizen zu seiner eigenen Person.
Die Beschreibungen stammen meist von Zeitzeugen, die oft noch unter dem unmittelbaren Eindruck der berichteten Ereignisse standen und daher die Emotionen authentisch spiegeln.
Gebeutelte Wädenswiler
Ein Beispiel dafür ist ein Dokument, das aus dem Wädenswiler Turmknopf stammt. Es beschreibt, wie die katholischen Orte der Innerschweiz im Ersten Villmergerkrieg 1656 in der Herrschaft Wädenswil wüteten: 32 Personen wurden erwürgt, 23 Häuser angezündet, 300 Stück Vieh geraubt.
Ein Dokument, das heute noch berührt, fanden die Klosterfrauen von Fahr in ihrer Kirchturmkugel. Es handelt sich um einen Augenzeugenbericht ihres Propstes Thietland Kälin, der beschreibt, wie die Franzosen am 25. September 1799 während der Zweiten Schlacht bei Zürich das Kloster überfielen.

Er berichtet, dass die Nonnen in den Propsteikeller flohen und die Absolution erhielten, weil sie dachten, ihr letztes Stündchen habe geschlagen.
Er erzählt aber auch, wie die mit grosser Wucht auf das Kloster geschossenen Feuerkugeln den Frauen wundersam und «ganz entkräftet vor die Füsse rollten». Und tatsächlich: Im Estrich des Klosters liegen noch drei Kanonenkugeln.
Reliquien und Münzen
Bei den Objekten kommen in katholischen Kirchen oft Reliquien von Heiligen vor, am häufigsten aber sind Münzen oder Medaillen.
So fand man 1867 im Knopf des Nordturms der Winterthurer Stadtkirche neben Manuskripten fünf für Numismatiker wertvolle Stücke.
Manchmal nur ein Wespennest
Nicht in allen Turmkugeln ist etwas versteckt. Manchmal findet man nichts als Wespennester oder Spinnweben. Kümin geht im Moment davon aus, dass sich vielleicht in der Hälfte solche Einlagen befinden.

Es ist üblich, die Funde bei Renovationen zwar anzuschauen, aber nur in Ausnahmefällen – etwa aus Konservierungsbedarf – zu entfernen. Denn es handelt sich ganz bewusst um Botschaften für die Nachwelt ohne zeitliche Beschränkung.
Kümin sagt: «Sie erlauben uns, in die damaligen Verhältnisse einzutauchen, und fordern uns gleichzeitig auf, unsere eigene Zeit zu reflektieren.»
Website der Kirchturmforschung von Beat Kümin: www.warwick.ac.uk/towercapsules. Er ist für Hinweise auf Turmkugelöffnungen dankbar.
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