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Irrtümliches Ziel im 2. Weltkrieg
Als Bomben die Schweiz trafen, kam er verletzt davon – und erinnert sich nun an den Tag

Hans Schlatter vor einem historischen Gebäude in Stein am Rhein, das etwa 80 Jahre nach der Bombardierung fotografiert wurde. Foto von Madeleine Schoder.
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In Kürze:
  • Hans Schlatter überlebte 1945 ein Bombardement in Stein am Rhein.
  • Das amerikanische Flugzeug war durch Nebel von der Route abgekommen.
  • Die Bomben töteten neun Menschen und zerstörten mehrere Gebäude.
  • Später erhielt Schlatter 50 Franken Schmerzensgeld von den USA.

Das Untertor von Stein am Rhein wird wegen seines grossen, goldverzierten Zifferblatts auch Zeitturm genannt – ein Wahrzeichen der malerischen Schaffhauser Kleinstadt an der deutschen Grenze. Vor dem Turm steht der 95-jährige Hans Schlatter in Mantel und Schal gehüllt. Wenn sich der Bombenangriff auf seine Heimatstadt Ende Februar jährt, muss er jeweils öfter daran zurückdenken. An jenen Tag, als amerikanische Bomben ihn fast getötet hätten. Genau an diesem Ort. Vor diesem Turm.

Historisches Foto von sechs Personen, die in einem zerstörten Bereich eines alten Gebäudes arbeiten, wahrscheinlich bei Aufräumarbeiten nach dem Krieg.

«Ich erinnere mich noch ganz genau, obwohl es mittlerweile 80 Jahre her ist. Es war der 22. Februar 1945. Wir hatten ein frühes Mittagessen. Als der Fliegeralarm kurz vor halb eins zum dritten Mal an diesem Tag heulte, lief ich nach draussen, um zu schauen, was los ist. In den Schutzkeller flüchteten wir schon lange nicht mehr. Die Sirenen heulten gegen Ende des Krieges die ganze Zeit. Es war ein wunderschöner Tag, und der Himmel war blau. Auch andere Kinder und Jugendliche waren neugierig nach draussen gekommen. Dann sah ich von rechts ein Flugzeug auf uns zufliegen. Genau in dem Moment, als es senkrecht über mir flog, wurde von einer Sekunde auf die andere alles schwarz. Zwei Bomben detonierten in nächster Nähe. Manche sagten später, sie hätten das Pfeifen der schräg anfliegenden Bomben gehört, bevor sie einschlugen. Aber ich hatte nichts gesehen und nichts gehört. Alles ging viel zu schnell. Ich bin überzeugt: Wenn man das Ziel der Bombe ist, hört man sie nicht kommen.»

Historische Gebäude mit sichtbaren Kriegsschäden, teilweise zerstört mit eingestürzten Dächern und beschädigten Fassaden.

Hans Schlatter wird unter Gebäudetrümmern begraben. Was für eine Bombe ihn traf und warum, wird er erst Jahre nach dem Krieg erfahren. Unter anderem durch die Arbeit von Matthias Wipf, der die irrtümlichen Bombenangriffe im Kanton Schaffhausen studiert und rekonstruiert hat. «Ich konnte mich dabei auf zahlreiche Dokumente stützen, die bis dahin als ‹top secret› klassifiziert waren», erzählt der Historiker. Er hat kürzlich ein Buch publiziert, das folgenden Ablauf aufzeigt:

Hans Schlatter und Historiker Matthias Wipf im Gespräch über die Bombardierung vor 80 Jahren in Stein am Rhein. Foto von Madeleine Schoder.

Das Flugzeug, das am 22. Februar über Stein am Rhein fliegt, heisst Starduster. Am Steuerknüppel sitzt Pilot Leslie Lenox. Er startet um 7.37 Uhr vom Flughafen Horham in Ostengland, zusammen mit elf anderen Flugzeugen, die über Kitzingen bei Würzburg Bomben abwerfen sollen. Ihr Ziel ist es, wichtige Transportinfrastruktur der Deutschen wie Bahnhöfe oder Brücken zu zerstören. Zwischen Freiburg im Breisgau und Basel gerät die Bombercrew aber in einen so dichten Nebel, dass sie nicht mehr gezielt navigieren kann. Also suchen die Piloten – wie üblich in solchen Situationen – sogenannte Gelegenheitsziele. Die Bomben sollen irgendwo über Deutschland abgeworfen werden, damit es die Flugzeuge mit weniger Last zurück nach England schaffen. Leslie Lenox verfliegt sich um 250 Kilometer. Er wirft aus einer Höhe von 4600 Metern über Meer seine Bombenfracht irrtümlicherweise über Stein am Rhein ab.

«Als ich wieder zu mir kam, konnte ich zunächst gar nicht einordnen, was geschehen war. Ich war bis zur Brust in Trümmern gefangen und weiss nur noch, dass ich grosse Angst hatte, dass das Untertor über mir zusammenkracht. Es hatte einen grossen Riss an der Aussenwand von unten bis oben. Glücklicherweise kam mein Nachbar schnell zu mir gerannt und begann mich zu befreien. Er hatte drei Söhne, zwei von ihnen waren auch mit mir draussen gewesen. Der sechsjährige überlebte leider nicht. Nur wenige Minuten nachdem der Nachbar mich befreit hatte, musste er seinen toten Sohn bergen. Das war schrecklich. Ich selber war zwar blutüberströmt, aber nicht lebensbedrohlich verletzt. Kaum war ich frei, rannte ich im Schockzustand los, weg vom Turm. Ein Paar Menschen brachten mich dann in ein Wirtshaus und legten mich auf eine Couch. Meine Mutter kam mich wenig später suchen, und am Abend kam noch der Hausarzt vorbei. Ich hatte ein paar Quetschungen, eine Gehirnerschütterung und einen kleinen Bruch an der linken Hand. Ansonsten nichts. Leider hatten nicht alle so viel Glück wie ich.»

Neun Menschen verloren ihr Leben

Die zwölf amerikanischen Sprengbomben forderten neun Menschenleben. Es starben vier Frauen, vier Mädchen und ein Junge. 15 Personen wurden schwer verletzt, 18 leicht. Sechs Gebäude wurden vollkommen zerstört, zwölf so schwer beschädigt, dass man sie neu aufbauen musste. Die neun Todesopfer wurden in einem Gemeinschaftsgrab auf dem Friedhof Stein am Rhein bestattet.

Auf dem Friedhof in Stein am Rhein sind die neun Todesopfer des Bombardements nebeneinander begraben.

«Nein, auf den Piloten hatte ich nie einen Groll. Das war damals auch noch ein ganz junger Mann. Knapp über zwanzig Jahre alt. Was mich aber erstaunte, war, dass er offenbar das Schweizer Kreuz nicht erkannt hatte. Die Anwohner entlang der Grenze hatten damals auf ihre Dächer grosse, weisse Kreuze gemalt, damit die Fliegertruppen erkennen konnten, wo die Schweizer Grenze ist. Dadurch fühlten wir uns sicher. Aber als ich Jahre später einen Rapport von Herrn Lenox zu lesen bekam, den die Piloten nach ihren Einsätzen über Deutschland ausfüllen mussten, stand darin zu den Kreuzen: ‹What does it mean?›»

Luftaufnahme von Stein am Rhein, 80 Jahre nach der Bombardierung, mit Blick auf die Stadt und den Fluss. Foto: Madeleine Schoder.

Als der Krieg beendet war, wurde Hans Schlatter Elektromechaniker und besuchte das Technikum in Konstanz. Im Jahr 1957 nahm er mit seiner Frau das Schiff nach New York. Sie lebten und arbeiteten für zehn Jahre in den USA. Nach dem irrtümlichen Bombenangriff hatte er ein Schmerzensgeld von 50 Franken erhalten. Was er damit gemacht habe, wisse er nicht mehr, sagt Schlatter und scherzt: «Vielleicht habe ich die 50 Franken als Anzahlung für unser erstes Auto in Kalifornien gebraucht.» Es war ein Chevrolet. 

Die USA überwiesen auch an die Stadt Stein am Rhein eine Summe von 3,15 Millionen Franken für den Wiederaufbau der zerstörten Häuser. Alles wurde wieder originalgetreu errichtet – darunter auch das Untertor, das komplett abgetragen und wieder aufgebaut werden musste. Hans Schlatter und seine Frau kehrten nach zehn Jahren zurück aus den USA, zurück nach Stein am Rhein. Dort leitete Schlatter das Amt für Zivilschutz.

Matthias Wipf: «Bomben auf Stein am Rhein. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erinnern sich». Druckwerk SH AG, 2023. 79 Seiten.