Magnus Carlsen pröbeltDer Denker setzt auf Freestyle-Schach
Spiele im Luxushotel und ausgeloste Aufstellungen der Figuren – der Schachsport probiert laufend neue Formate aus. Im Zentrum der Revolution: der gelangweilte Superstar.

Ein Termin in einem Schloss kann eine illustre Sache sein, aber Magnus Carlsen lässt sich davon nicht beeindrucken. Im Luxusresort Weissenhaus an der Ostsee ist das Gespräch geplant, im Billardraum des besagten Schlosses. Die Wände sind dunkel, der Geruch von Qualm hängt in ihnen – beides scheint dem Norweger nicht zu behagen. Als er den Raum betritt, kneift er die Augen zusammen und sucht umgehend die nächste Tür. Er geht also ein Zimmer weiter neben die Kaffeebar, da ist mehr Licht, und es gibt einen gemütlichen Sessel.
Schwungvoll fällt Carlsen in die Polster. Die Worte eines Sprechers vorher lauteten: Länger als fünf Minuten gibt er keine Interviews, «und er hat die Neigung, auch mal abzuhauen». Man kann das positiver ausdrücken und sagen: Magnus Carlsen, der beste Schachspieler der Welt, ist ein Lustmensch.
Mehr als eine Woche hat der 33-Jährige jetzt im Prunkhotel verbracht, um sich in einem ungewöhnlichen Schachturnier zu messen. Der 33-Jährige will nicht länger Weltmeister sein, weil er die klassischen Strukturen so öde findet. In Weissenhaus spielten sie dagegen «Fischer Random», eine von Ex-Weltmeister Bobby Fischer erfundene Variante, in der die Figuren nicht in der üblichen Formation aufs Brett kommen, sondern die Grundaufstellung ausgelost wird. Das Label «Freestyle-Schach» hat sich der Veranstalter dafür ausgedacht. Carlsen sagt: «Ich würde mir wünschen, dass es in Zukunft mehr Events wie diese geben würde.»

Der Anlass ist ein Zeichen dafür, wie viel Bewegung gerade im Schach herrscht. Der Denksport hat bewegte Zeiten hinter sich: Die Corona-Pandemie trieb die Menschen zum (Online-)Spiel, der Netflix-Hit «Damengambit» tat sein Übriges. Aber dauerhafte und dauerhaft erfolgreiche Strukturen entstanden daraus nicht, vor allem nicht für das Spitzenschach mit seinem klassischen Setting, in dem sich zwei Spieler bis zu sechs, sieben Stunden gegenübersitzen.
Jetzt wird überall an neuen Formaten gebastelt, und es ist kein Zufall, dass Carlsen eine zentrale Rolle zukommt. Der Norweger ist weiter die Galionsfigur seines Sports – auch wenn er vor dem letzten WM-Kampf seinen Titel niederlegte. «Ich denke, es gibt viele Menschen, die ein bisschen traurig sind, dass ich die WM nicht mehr spiele», sagt er. Das Format der WM ist ihm mittlerweile zuwider, er hat die Motivation verloren. «Du hast viel Zeit zu überlegen und kannst Perfektion anstreben. Wenn ich es spiele, mag ich es, aber alles drum herum langweilt mich, die viele Zeit mit Schachtheorie», sagt er. Man darf das aber nicht missverstehen: Die Lust am Schach generell ist ihm nicht vergangen. «Ich liebe das Spiel immer noch.»
Das kann man in der Tat seit Jahren sehen. Blitzschach, Schnellschach, die Varianten mit kurzen Bedenkzeiten von nur wenigen Minuten, die pflegt Carlsen mit grosser Leidenschaft. Und nun hat es ihn also zum Freestyle-Schach gezogen, weil es aus seiner Sicht mehr Spannung verspricht. «Ich denke, das hier ist noch eine ursprünglichere Form von Schach», sagt er. Beim normalen Schach ist zu Partiebeginn vieles von den klassischen Eröffnungen und Eröffnungstheorien geprägt; bestimmte Zugfolgen kamen in Tausenden Partien aufs Brett und sind zudem am Computer sehr gut vorbereitet.
960 mögliche Grundaufstellungen
Beim Fischer- und Freestyle-Schach, wo es 960 mögliche Grundaufstellungen gibt, ist das anders. Da müssen die Spieler am Brett mehr denken und kalkulieren, kommt es zudem stärker auf Intuition an, entsteht mehr Spannung und Abwechslung. Wenn es in der Vergangenheit Fischer-Turniere gab, dann eher solche mit knapper Bedenkzeit, was eigentlich widersinnig ist, weil man dabei zum Beginn einer Partie doch viel mehr sinnieren muss als beim klassischen Schach.
In Weissenhaus probierten sie es nun mit langer Bedenkzeit, dadurch wird eine höhere Qualität der Züge ermöglicht – und das Ganze «aufregender für die Spieler», wie Carlsen findet. «Du musst deinen Kopf wirklich benutzen. Ich denke, es ist anstrengender als normales Schach», sagt er. Aber: «Hart arbeiten zu können, sollte ein Privileg sein, keine Bürde.»
Der Norweger ist nicht der einzige Spieler, der dem Freestyle-Schach etwas abgewinnen kann; auch der Weltmeister Ding Liren ist in Weissenhaus dabei. Und manch einer glaubt gar, dass diese Art von Schach mittelfristig das klassische Schach ablösen kann. Das Turnier in Weissenhaus mag eine Sonderstellung haben, weil der Besitzer des Resorts, der Multimillionär Jan Henric Buettner, mit der Wahl der Spielstätte und einem siebenstelligen Budget für ein ungewöhnliches Ambiente sorgt. Aber es geht auch generell um die Frage, ob und wie weit sich ein Sport weiterentwickeln kann, um attraktiv zu sein.

«Ich denke, die Schachwelt generell ist sehr konservativ eingestellt. Das schränkt sie offensichtlich ein», sagt Magnus Carlsen. Dass man als Weltverband den bekanntesten Mann verliert, ist ein Fiasko. Ob sich die internationale Schach-Föderation Fide zu verschlossen gegenüber Neuerungen gibt? Carlsen lächelt, er hat sich einige Jahre lang mit der Fide gestritten. «Ein Vorteil davon, dass ich die WM nicht mehr spiele, ist, dass ich mich an solchen Diskussionen nicht mehr beteiligen muss. Das liegt jetzt wirklich bei ihnen», sagt er.
Carlsen ist nicht nur als Sportler unterwegs. Vor ein paar Jahren hat er ein eigenes Imperium als Mitgründer der Play Magnus Group geschaffen, die Schach-Apps und virtuelle Trainingsprogramme aufgebaut hat sowie eine Online-Turnierserie. Nach einem Schach-Hype zur Pandemie ging die Gruppe Ende 2022 im Konkurrenten Chess.com auf. Mit Vermarktung beschäftigt sich Carlsen nach eigenen Worten nicht mehr, aber er weiss trotzdem, was für seinen Sport wichtig ist: «Das Beste, was ich für das Schach tun kann, ist, zu spielen.» Oder, in anderen Worten: Die beste Werbung ist er.
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