Interview mit Psychotherapeut«Stalker erschrecken uns, aber sie faszinieren auch»
In der Schweiz soll neu der Straftatbestand «Nachstellung» gelten. Wolf Ortiz-Müller, der Opfer und Täter behandelt, befürwortet diese Verschärfung. Er sagt: «Es braucht aber mehr.»
Die Schweiz plant nach langem Zögern, Stalking zu einem Straftatbestand zu erklären, die Vernehmlassung ist soeben abgelaufen. Herr Ortiz-Müller, finden Sie das sinnvoll?
Ich begrüsse den Entscheid. Es braucht ein Gesetz, um alle Formen von Stalking zu erfassen und damit die Opfer besser zu schützen.
Es geht vor allem um das sogenannte «weiche Stalking», das neu unter Strafe gestellt werden soll. Ein verharmlosender Begriff.
Allerdings. Denn was zunächst wie eine freundliche Aufmerksamkeit daherkommt, Blumen, Konzerttickets oder immer wieder Mails und SMS zu schicken, erweist sich immer stärker als Missachtung des anderen. Und seinem erklärten Willen, keinen Kontakt mehr zu haben. Die serielle Wiederholung durch den Nachstellenden, das Bedrängen der begehrten Person, kann diese in ihrer Freiheit einschränken, ihr Angst machen oder das Gefühl geben, ausgeliefert zu sein.
Hat ein Gesetz Signalcharakter?
In meinen Augen schon. Ein Gesetz funktioniert ja immer auch als Verdeutlichung der Norm. Indem der Staat ein Verhalten unter Strafe stellt, macht er klar, dass dieses in der Gesellschaft unerwünscht ist. Und würdigt zugleich die Opfer einer solchen Rechtsverletzung.
Deutschland kennt seit längerem ein Stalking-Gesetz und hat es auch mehrmals verschärft. Was sind die Erfahrungen?
Zunächst einmal, dass die Leute durch das Gesetz sensibilisiert werden, dass man solche Übergriffe diskutiert, auch in den Medien. Weil die Verurteilungen aber selten blieben, hat man das Gesetz konkretisiert. Dadurch sinkt die Schwelle für eine Verurteilung.
Denken Sie, dass sich Stalking-Opfer dadurch besser geschützt fühlen?
Dazu braucht es mehr als ein Gesetz. Es braucht psychologische und rechtliche Hilfe, um herauszufinden, wie man sich in einer solchen Situation verhalten soll und wann eine Strafanzeige Aussicht auf Erfolg hat. Die Opfer müssen zum Beispiel Tagebücher über die Taten schreiben, Zeugenaussagen sammeln und ihre persönliche Beeinträchtigung beschreiben. Gerät die Klage nämlich zu schwach und die Staatsanwaltschaft stellt sie ein, sieht sich der Täter oder die Täterin triumphal bestätigt. Und die Betroffenen fühlen sich allein gelassen.
«Betroffene sollen sich Täterinnen und Tätern gegenüber eindeutig und einmalig abgrenzen.»
Wie kann man sich am besten gegen das Stalking schützen? Was ist unbedingt zu vermeiden?
Betroffene sollen sich Täterinnen und Tätern gegenüber eindeutig und einmalig abgrenzen. Danach sollen sie keinen weiteren Kontakt mehr haben, diese Klarheit beibehalten und weitere Stalking-Handlungen dokumentieren. Dabei geht es auch darum, das eigene Umfeld einzubeziehen, also Familie, Freunde und Kolleginnen und auch die Nachbarschaft, sodass diese aufmerksam sind und Nachstellungen bezeugen können. Schliesslich sollen Betroffene eine professionelle Opferhilfeeinrichtung aufsuchen, um einen persönlichen Schutzplan zu erstellen. Und auch überprüfen lassen, ob eine Strafanzeige mehr Sinn macht.
Zwar dominieren männliche Täter, aber es gibt auch stalkende Frauen. Wie unterscheiden sich die Geschlechter?
Stalkende Männer haben oft ein negatives Frauenbild – sexistisch, verächtlich, entwertend. Das drückt sich schon in ihrer Sprache aus – «Du Bitch, du Schlampe hast es nicht anders verdient». Ausserdem rächen sich nur Männer mit der Veröffentlichung intimer Bilder, dem sogenannten «revenge porn». Das habe ich als Therapeut bei Frauen nie erlebt.
Was macht stalkende Frauen aus?
Bei ihnen liegt oft eine starke Verletzung vor, ein Gefühl der Missachtung ihrer Wünsche und Bedürfnisse. Solche Frauen versuchen dann, die Ohnmacht des Verlassenwerdens zu kompensieren. Das Stalking gibt ihnen ein Gefühl von Macht.
Bei beiden Geschlechtern nehmen sich die Täter als Opfer wahr.
Ja, das ist ein Grundzug stalkenden Verhaltens. Viele fühlen sich nach einer Trennung nicht verstanden und zu Unrecht zurückgewiesen, sie verlangen eine Erklärung. Oder versuchen mit ihrer Kontrolle eine Art Gerechtigkeit wiederherzustellen. Deshalb müssen sie sich auch dem Opfer immer wieder zeigen.
«Männer erleben die Aggression viel stärker als befreiende Kraft.»
Oft fragt man sich, wieso sich die Betroffenen überhaupt auf solche Täter eingelassen haben. Liegt das an einem tiefen Selbstwertgefühl?
Paradoxerweise ist dieses bei den Tätern tiefer, darum liegt die Suizidalität bei ihnen auch viel höher. Wenn die Opfer Frauen sind, gehört es auch zu ihrer Sozialisation als Mädchen, geduldig und verständnisvoll zu handeln, sich lange um Verständnis zu bemühen, zu verzeihen und Ähnliches mehr. Männer erleben die Aggression viel stärker als befreiende Kraft. Dabei möchte ich klarstellen, dass sich stalkende Menschen ebenfalls in einer Not befinden und unsere ganze therapeutische Zuwendung brauchen. Auch für sie ist der Zustand unerträglich.
Beim Stalking fällt auf, dass es oft harmlos beginnt und sich dann steigert, wie bei einer Sucht: Weil die Wirkung nachlässt, muss man die Dosis steigern.
Wir haben mit der Charité in Berlin stalkenden Personen einen Fragebogen zur Spielsucht vorgelegt. Daraus ergab sich tatsächlich eine hohe Übereinstimmung. Nicht so sehr bei der Steigerung der Dosis, aber bei der unablässigen Beschäftigung mit dem Spielen oder dem Nachstellen eines Menschen. Wenn das nichts bringt, steigt die Frustration, und das Stalking wird aggressiver.
Warum nehmen Stalkende sogar eine Ablehnung als Aufforderung wahr?
Man weiss von Kindern, die unter Missachtung leiden, dass sie irgendetwas anstellen im Wissen, dafür beschimpft oder bestraft zu werden. Aber immer noch besser das, als gar nicht beachtet zu werden. Stalkerinnen und Stalker verstehen das «No means No» oft nicht als Absage, sondern als Beleg dafür, ihre Bemühungen zu verstärken, im Sinne: Ich muss dranbleiben, irgendwann werde ich sie dann herumkriegen. Sie handeln aus einem Selbstbehauptungsmodus heraus.
Inwiefern ist das Stalking in einer Beziehung bereits angelegt? Sting, der Sänger von The Police, schrieb mit «Every Breath You Take» einen riesigen Hit, doch der handelt von einem alles kontrollierenden Stalker. Zu seiner Überraschung sagten ihm darauf viele junge Paare, es sei ihr liebstes Stück, sie hätten zu seinen Klängen geheiratet. Wie ist das zu erklären?
Sting hat das Stück ja in einer schlaflosen Nacht geschrieben. Und erst hinterher realisiert, was für unheimliche Fantasien ihm da eingefallen waren. Ich frage mich auch, ob das Publikum die Implikation des Songs wirklich versteht. Aber es stimmt schon mit diesen sogenannten Kollusionsbeziehungen, bei denen die Partner aneinanderkleben. Und sich denken, je mehr der andere von mir weiss, desto mehr werde ich von ihm geliebt, und wir werden eins.
Der Schweizer Paartherapeut Klaus Heer findet, ein Paar müsse auch Geheimnisse voreinander wahren.
Das sehe ich auch so. Wobei das vom historischen Kontext abhängt. Für meine Eltern war die Monogamie bis zum Tod das einzige Modell. Ich gehöre zu einer Generation, die sich binden und wieder trennen konnte. Das geht bis zur als offen definierten Beziehung mit mehreren Partnern. Aber das macht natürlich trotzdem Angst. Woraus dann ein Kontrollbedürfnis resultiert. Wer sich diesem entziehen möchte, gerät sofort unter Verdacht.
«Dieses Nachstellen eines anderen lässt sich bis in die griechische Mythologie zurückverfolgen.»
Die sozialen Medien fördern das sogenannte Cyberstalking. Dieses scheint immer mehr zu einem eigenen Problem zu werden.
Es ist auch ein sehr weites Feld. Ein paar flehende SMS zu schreiben, gehört nicht dazu. Aber das Hacken von Passwörtern schon, das Lesen fremder Mails oder gar die Installation von Spyware. Dieses Verhalten ist ausgesprochen männerspezifisch, weil Männer eher über das technische Wissen verfügen.
Es fällt auf, wie viele Fernsehserien von Stalking handeln. Ist das nicht Ausdruck einer heimlichen Faszination?
Ja. Stalker erschrecken uns, aber sie faszinieren auch. Man könnte sogar sagen: neues Verbrechen, altes Verhalten. Denn dieses Nachstellen eines anderen lässt sich bis in die griechische Mythologie zurückverfolgen. Zur öffentlichen Faszination gehört auch das Böse des Stalkers, der im Dunkeln lauert und einen sexuellen Angriff plant. Ich deute das als Projektion eigener, unterdrückter Fantasien – die verbotene Lust eines unkontrollierten Voyeurismus wird am Stalker ausgelebt.
Sie beraten ja nicht nur Opfer, sondern auch Täter. Was Stalkenden offensichtlich fehlt, ist ein Unrechtsempfinden. Wie lässt sich das therapeutisch korrigieren?
Solange beim Täter oder der Täterin Gefühle von Kränkung und Zurückweisung vorherrschen, ist ein Wechsel der Perspektiven kaum möglich. Denn dann kann er oder sie sich gar nicht vorstellen, wie ausgeliefert sich das Opfer fühlt. Stalker haben oft nicht gelernt, mit Trennungen umzugehen. Wir alle wissen, wie schmerzhaft Liebeskummer ist. Aber die meisten von uns können diese Realität irgendwann annehmen, finden den Humor wieder und können eine neue Beziehung eingehen. Stalker nehmen die begehrte Person gar nicht als Individuum wahr, sondern als Ausdruck ihrer eigenen verzweifelten Beziehungswünsche.
Stalking ist ja, wie die Sucht auch, ein Symptom, hinter dem sich andere psychische Nöte verbergen, zum Beispiel eine Depression. Oder eine narzisstische Kränkung.
Es muss nicht immer sein, zumal die Pathologisierung Schuldlosigkeit impliziert. Es gibt auch Stalker ohne schwere psychischen Störungen. Auffällig ist aber das Besitzergreifende, das Kontrollieren, die narzisstische Komponente.
Gibt es dann auch bei Opfern so etwas wie einen rächenden Sadismus, der den anderen leiden sehen möchte?
Ich kann mir schon vorstellen, dass Betroffene, die sich von ihrem Partner oder ihrer Partnerin richtig schlecht behandelt fühlten, ihre Trennung von ihm auch als aggressiven Akt vollziehen. Da kann es einem Triumph gleichkommen, den anderen eifersüchtig zu machen. Aber solche Leute sind immer noch in der Paardynamik gefangen. Die allermeisten Opfer leiden schwer an ihren Stalkern und möchten einzig, dass diese ihr Verhalten einstellen.
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