Ronja Fankhausers Brief an die MutterWie es ist, in der Psychiatrie zu sein
Für manche ist eine Klinik etwas Extremes, eine Notlösung. Für andere ein heilender Ort.
Hallo Mama, gestern habe ich M. auf der Kriseninterventionsstation besucht.
Wenn ich dir davon erzähle, machst du dir sofort Sorgen. Für dich ist eine Klinik etwas Extremes, eine Notlösung. Auch ich hatte lange ein verzerrtes Bild von solchen Institutionen, kannte sie nur aus Horrorfilmen: Gummizelle, Zwangsjacke, Elektroschocks. Als Kinder auf dem Land haben wir einander im Spass gedroht: «Pass auf, was du machst, sonst schicken wir dich nach Münsigen links!» und meinten damit das PZM, ein Psychiatriezentrum im Aaretal. Ich hatte Albträume davon, dort zu enden, hinter Gitter mit all den «Verrückten».
Inzwischen kenne ich das Psychiatriesystem fast ein bisschen zu gut. Weisse Wände und weisse Vorhänge, Laminatböden und vergitterte Fenster. Mein Aufenthalt im Psychiatriezentrum war ziemlich ereignislos. Ich redete wenig, besuchte die obligatorischen Therapien, sah durch die immer geschlossenen Fenster den Störchen beim Brüten zu. Mein Zimmer teilte ich mit drei älteren Frauen. Ich war mit Abstand die Jüngste und die einzig sichtbar queere Person auf der Station – für manche meiner konservativeren Mitpatient:innen ein Problem. Das Personal gab sich grosse Mühe, viele von ihnen waren aber überarbeitet. Oft fühlte ich mich einsam, fremd.
Eine Klinik kann trotzdem ein heilender Ort sein, eine Auszeit vom Alltag: Es wird für dich gekocht, geputzt und aufgeräumt. Du bekommst einen Stundenplan, der deine Woche regelt, du wirst morgens aufgeweckt und hast tagsüber Zugang zu diversen Beschäftigungsprogrammen, wirst umsorgt, gepflegt, nach deinem Befinden gefragt.
Aber es ist wahr, dass Kliniken für viele Menschen auch traumatisierend sein können. Wer sich selbst oder andere aktiv gefährdet, kann nach dem Modell der fürsorgerischen Unterbringung zwangseingewiesen werden und landet auf einer geschlossenen Station, in schlimmen Fällen sogar im Isolationsraum. In Extremsituationen werden Patient:innen festgebunden oder mit Medikamenten ruhig gestellt.
Du, Mama, warst immer der Meinung, dass es keine gute Idee sei, alle Menschen, denen es schlecht geht, an denselben Ort zu bringen, aber was ist die Alternative? Kliniken sind oft die letzte Auffangstelle für Menschen, die im Leben nicht mehr weiterwissen, und die Zustände sind von Spital zu Spital, sogar von Station zu Station so unterschiedlich, dass es schwierig ist, sich eine abschliessende Meinung zu bilden.
M. zumindest macht gute Erfahrungen, wird auf die Wiederintegration in den Alltag vorbereitet, lernt wichtige Skills, und sogar die Menüs sind passabel – du musst dir also keine Sorgen machen. Falls ich selber irgendwann wieder einen stationären Aufenthalt brauche, hoffe ich vor allem eins: dass wir darüber reden können.
Bis bald,
Ronja
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