Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Richter stellen sich hinter misshandelte Russinnen
Gewalt gegen Frauen sei in Russland ein «systematisches Problem» und von «unglaublichem Ausmass». Geklagt hatten in Strassburg vier Russinnen, eine von ihnen wurde vom Ehemann mit einer Axt attackiert.

Es sind vier Leidensgeschichten von Frauen aus Russland, mit denen sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg befasst hat: Die erste wurde von ihrem Mann regelmässig geschlagen und misshandelt. Die Polizei weigerte sich, einzuschreiten, ihre Verletzungen seien zu wenig schwer, wurde ihr gesagt. Als ihr Ehemann sie die Treppe hinunterstiess, erklärten die Behörden, sie könnte sich die Blessuren selber beigebracht haben. Die zweite Frau wurde Dutzende Male attackiert, die Polizei behauptete, die Angriffe habe es nicht gegeben. Die dritte stach ihren Mann nieder, als er sie vom Balkon stossen wollte. Sie wurde verurteilt, gegen ihn gab es keine Ermittlungen.
Der krasseste Fall ist jedoch der von Magarita Gratschowa. Ihr Mann schlug sie, zerriss ihren Pass, sperrte sie im Auto ein. Ein Polizist riet ihr, ihre Anzeige zurückzunehmen, ihr Ehemann wolle ihr nur seine «Liebe beweisen», wie das Gericht schreibt. Schliesslich entführte der Mann sie und hackte ihr mit einer Axt beide Hände ab. Die linke Hand konnte wieder angenäht werden, die rechte mussten die Ärzte durch eine Prothese ersetzen. Der Mann wurde zu 14 Jahren Lagerhaft verurteilt. Gratschowa klagte aber auch den Polizisten ein, der sich nicht um ihre Not geschert hatte, doch die russischen Untersuchungsrichter erklärten, es gebe keinen inhaltlichen Zusammenhang zwischen der Passivität des Polizisten und der Attacke auf sie.
Frauenrechtlerinnen sprechen von einem Sieg
Die Richter in Strassburg sehen das ganz anders. Gewalt gegen Frauen sei in Russland ein «systematisches Problem» und sei von «unglaublichem Ausmass». Sie werteten alle vier Fälle als Beispiele dafür, dass der Staat seiner Pflicht nicht nachkomme, seine Bürgerinnen vor häuslicher Gewalt zu schützen, Frauen würden in diesem Zusammenhang diskriminiert. Scharf kritisiert wurde auch die mangelhafte Gesetzgebung: Russland kennt keinen Straftatbestand für häusliche Gewalt, und Körperverletzung im häuslichen Bereich gilt als Kavaliersdelikt. Die Richter riefen Russland auf, Gratschowa 380’000 Franken für medizinische Behandlungen und als Schmerzensgeld zu zahlen. Die anderen drei Frauen sollten mit 25’000 Franken entschädigt werden.
Russland wies alle Kritik der Richter von sich, man könne den Staat nicht für die Taten Einzelner verantwortlich machen, hiess es. Russland weigert sich seit Jahren, die Urteile von internationalen Gerichten anzuerkennen, und liess unlängst nationales über internationales Recht stellen. Doch obwohl die Frauen deshalb von dem Geld nichts zu sehen bekommen dürften, sprachen russische Frauenrechtlerinnen, die seit Jahren für ein Gesetz gegen häusliche Gewalt kämpfen, von einem «Sieg».
Jedes Jahr werden etwa 14’000 Frauen von Familienangehörigen getötet, meistens vom Ehemann.
Russland wird immer wieder von massiven Fällen von Gewalt gegen Frauen erschüttert. Genaue Zahlen gibt es nicht, Schätzungen gehen davon aus, dass in jeder zweiten Familie geschlagen wird. Jedes Jahr werden etwa 14’000 Frauen von Familienangehörigen getötet, meistens vom Ehemann – das sind fast 40 Tote pro Tag.
Rund 80 Prozent der Frauen, die in Russland wegen Mordes im Gefängnis sitzen, haben ihren Ehemann getötet, der sie vorher misshandelt hat. Die Polizei betrachtet die Gewalt wie bei den in Strassburg verhandelten Fällen häufig als «Familienangelegenheit». Allerdings fehlt den Beamten auch oft die rechtliche Handhabe: Vor vier Jahren hat das russische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das Gewalt in der Familie als Ordnungswidrigkeit beurteilt und nicht länger als Straftat behandelt, wenn die Zwischenfälle nicht mehr als einmal im Jahr vorkommen und keinen Spitalaufenthalt nach sich ziehen.

Auf der ganzen Welt gebe es Gewalt gegen Frauen, klagen russische Aktivistinnen, doch kaum ein Land weigere sich dermassen konsequent, etwas dagegen zu tun, wie Russland. Inzwischen ist das Thema aber nicht mehr tabu, immer öfter zeigen Frauen ihre Peiniger an, auch wenn es ihnen im Moment nichts nützt. Insbesondere der Fall von drei Mädchen, damals 17, 18 und 19 Jahre alt, hat die Gesellschaft aufgerüttelt. Sie töteten 2018 ihren Vater, der sie jahrelang ungehindert missbraucht und misshandelt hatte. Als die jungen Frauen unter Mordanklage gestellt wurden, gingen Tausende vor allem junge Leute für die Mädchen auf die Strasse.
Diesen Sommer hat die Staatsanwaltschaft nun auch eine Untersuchung gegen den Vater eröffnet. Dabei wurde klar festgehalten, dass die Töchter die Opfer des Mannes sind. Noch ist die Mordanklage nicht aufgehoben, doch Beobachter gehen davon aus, dass die Töchter nicht wegen Mordes an ihrem Peiniger vor Gericht kommen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.