Neue PropagandastrategienPutin hat die Gangart gewechselt
Noch immer wird in Russland nur von einer «militärischen Spezialoperation» gesprochen. Allen Anzeichen nach glaubt eine Mehrheit dem Kremlchef – den anderen droht die Festnahme.
Neue Schilder hängen an den grossen Ausfallstrassen Moskaus, sie zeigen einen Soldaten im Kampfjet. Er hebt den Daumen, als könne es gleich losgehen, eine Fliegermaske verdeckt sein Gesicht. «Bei uns klappt alles» steht über dem Foto.
Das Plakat ist eines von sehr wenigen Beispielen, bei denen der Krieg auf Russlands Strassen sichtbar wird. Der Kreml konfrontiert die Menschen nur in sehr kontrollierten Dosen mit der Tatsache, dass russische Soldaten im Nachbarland kämpfen. Die Botschaft ist dann stets dieselbe: Alles läuft nach Plan. Als habe Wladimir Putin nie mit einem schnellen Sieg gerechnet.
«Die Arbeit geht ruhig und rhythmisch voran», hatte der Kremlherrscher versichert, als ihn Journalisten vor einigen Wochen nach dem Zeitplan für seine «militärische Spezialoperation» fragten – so muss der Krieg in Russland immer noch genannt werden. Die Truppen erreichten ihre Etappenziele, antwortete Putin, «alles läuft nach Plan». Es ist eine neue Gelassenheit, die Putin da demonstriert. Zu Beginn seines Feldzugs trat er anders auf, emotional und fahrig, wie im Angriffsmodus. Damals rief er die ukrainischen Truppen mehrfach dazu auf, sich zu ergeben, als rechnete er tatsächlich mit einem schnellen Erfolg.
Inzwischen hat Putin die Gangart gewechselt. Er stellt die Russen darauf ein, dass sie einen langen Atem brauchen. Offenbar mit Erfolg: «Jeder hat bereits verstanden, dass dies ernst und für lange Zeit ist, kein schneller Wurf», sagte Waleri Fjodorow, Leiter des staatlichen Meinungsforschungsinstituts Wziom, der Nachrichtenagentur Ria Nowosti am Montag. Anfangs habe die Meinung geherrscht, «dass alles sehr schnell gehen würde». Inzwischen wachse die Ansicht, dass es Monate oder sogar Jahre dauern könnte.
Umfragen in Russland ist heute zwar noch weniger zu trauen als vor Kriegsbeginn. Von den Antworten, die etwa auch das unabhängigere Lewada-Zentrum einsammelt, muss sich der Kreml dennoch bestätigt fühlen: Die Mehrheit, mehr als drei Viertel der Befragten, unterstützt die «Spezialoperation». Immer mehr Menschen stellen sich darauf ein, dass sie lange dauern wird. Gleichzeitig nimmt das Interesse für das Thema langsam ab.
Die Argumentationskette sitzt: Schuld ist der Westen
Für Putin wäre das Grund genug für ein wenig Gelassenheit. Seine Propaganda wirkt: Während der Kreml den Krieg weitgehend aus dem Alltag der Menschen herausgehalten hat, senden die Staatsmedien im Dauerkrisenmodus. Unterhaltungsshows sind allabendlichen Talkrunden gewichen, ständiges Thema ist die angebliche Aggression des Westens, gegen die sich Russland verteidigen muss und auf die alle Herausforderungen, vor denen die Russen nun stehen, letztlich zurückzuführen seien.
Immer routinierter führt Putin vor, wie diese Argumentationskette funktioniert: Der Westen kultiviere einen «neoliberalen Totalitarismus», sagte der Kremlherrscher Mitte August auf einer Sicherheitskonferenz, er zwinge anderen Staaten seine «postkoloniale Ordnung» auf, mische sich in ihre inneren Angelegenheiten, provoziere Proteste, sogar Bürgerkriege. Die USA brauchten Konflikte, um ihre globale Vormachtstellung zu erhalten. «Deswegen haben sie das ukrainische Volk dazu bestimmt, als Kanonenfutter zu dienen.»
Russland, das ist die Botschaft, hatte keine andere Wahl, als einzugreifen. Selbst wenn Meldungen über Misserfolge trotz Zensurgesetzen durchsickern, von veralteter Ausrüstung des Militärs etwa oder von Anschlägen auf russischem Boden, fängt die Propagandamaschine sie locker auf. Die Autobombe, die am Samstag die russische Nationalistin Darja Dugina in Moskau getötet hat, soll laut russischem Geheimdienst eine Frau aus der Ukraine gezündet haben, eine Kämpferin des Asow-Regiments. Es ist eine Version, welche die Notwendigkeit des russischen Feldzugs untermauern soll. Sie lenkt von dem Gedanken ab, dass dieser den Russen auf ihrem eigenen Territorium gefährlich werden könnte.
Proteste sind kaum vorstellbar
Ein verwandtes Prinzip funktioniert, wenn es um die Sanktionen geht. Dass sie nun auf Ikea und H&M verzichten müssen, verbinden viele Russen nicht mit dem Krieg, sondern sehen darin eher einen Beweis für die Boshaftigkeit des Westens. Bisher erscheinen die Folgen lächerlich harmlos; das wird sich ändern, wenn die staatlichen Reserven schrumpfen, Lieferketten zerfallen, entscheidende Technologien fehlen. Diejenigen, die der Propaganda glauben, werden dann wiederholen, was Putin seit Jahren behauptet: Der Westen habe Russland schon immer kleinhalten wollen.
Wer Putin glaubt, der steht hinter der «militärischen Spezialoperation». Wer ihm nicht glaubt, der ist gegen den Krieg – und still, ausgereist oder in ständiger Gefahr, festgenommen zu werden. Es gibt in Putins Russland keinerlei Spielraum mehr für Menschen und Medien, die nicht auf Kremllinie sind. Gezeigt hat sich das erst wieder vergangenen Montag, als Russland den «Tag der Nationalflagge» feierte. Auf den Brücken der Hauptstadt wehten Fahnen in Weiss, Blau und Rot. In der Moskauer Metro nahm die Polizei prophylaktisch einige Dutzend Menschen fest, die zuvor wegen ihrer Haltung gegen den Krieg aufgefallen waren.
Vermutlich wollte man Miniprotesten vorbeugen, die es ohnehin kaum noch gibt, weil jeder Demonstrierende sofort festgenommen wird. Grössere Proteste sind im heutigen Russland kaum vorstellbar, Risse innerhalb der herrschenden Clique in Kreml und Wirtschaft äusserst unwahrscheinlich. Putins Macht erscheint gefestigter, als es vor sechs Monaten noch vorstellbar war.
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