Machtkampf in WeissrusslandPutin entscheidet über Lukaschenkos Schicksal
Ohne Moskau geht in Minsk gar nichts. Welche Optionen hat der russische Präsident Wladimir Putin im kleinen Nachbarland? Vier Szenarien.
Die Proteste in Weissrussland reissen nicht ab. Nach den Grossdemonstrationen am Wochenende gehen weiter Tausende gegen den autokratischen Präsidenten Alexander Lukaschenko auf die Strasse. Sie fordern seinen Rücktritt, ein Ende der Gewalt und eine Wiederholung der manipulierten Präsidentenwahl. Lukaschenko weist die Forderungen zurück und sucht Rückhalt in Russland, mit dem Weissrussland wirtschaftlich und politisch eng verbunden ist. Präsident Wladimir Putin wird bei der Lösung des Konfliktes eine zentrale Rolle spielen. Welche, ist jedoch noch unklar.
Wladimir Putin interveniert militärisch, um Alexander Lukaschenko zu retten
Russland habe ihm Hilfe versprochen, sagt der unter Druck geratene weissrussische Präsident Alexander Lukaschenko. Moskau werde militärisch eingreifen, wenn Weissrussland «von aussen bedroht» werde, präzisiert der Kreml. Eine militärische Intervention Russlands kann man damit zwar nicht ganz ausschliessen, allerdings ist sie sehr unwahrscheinlich. Denn das würde Wladimir Putin nur Probleme schaffen: Die Russen sind den Weissrussen sehr nahe und zeigen in der aktuellen Krise viel Solidarität. Putin würde, wenn er mit Gewalt zugunsten des ungeliebten Autokraten eingriffe, nicht nur die Weissrussen vor den Kopf stossen, sondern auch die eigenen Leute.
Scharfmacher im eigenen Land haben den Kreml aufgerufen, die «kleinen grünen Männer» nach Weissrussland zu schicken, die Elitesoldaten ohne Rangabzeichen, die 2014 die ukrainische Krim annektiert haben. Doch der Vergleich mit der Ukraine hinkt: Der Protest in Kiew drehte sich von Anfang an um die Wahl zwischen Russland und dem Westen. Auslöser war, dass der korrupte Präsident Wiktor Janukowitsch in letzter Minute die beschlossene Integration in Europa kippte und mithilfe Moskaus seine Haut retten wollte. Der Kreml hat die antirussischen Demonstranten als Faschisten, die neue Führung, die von einem Nato-Beitritt schwadronierte, als Junta verunglimpft. Der Krieg in der Ostukraine dauert bis heute an.
In Weissrussland spielt der Streit zwischen Ost und West keine Rolle. Die Proteste richten sich gegen Präsident Alexander Lukaschenko, seine Wahlmanipulationen und die Gewalt auf der Strasse – die Demonstranten sind weder prowestlich noch antirussisch. Hier geht es nicht um Geopolitik, sondern um persönliche Freiheit und ein Leben in Würde. Allerdings könnte zu viel westlicher Druck auf Minsk von Russland schnell als Bedrohung empfunden werden und zuletzt doch noch zu einer russischen Intervention führen: Weissrussland ist für Moskau ein wichtiger Pufferstaat, den man niemals einem westlichen Bündnis überlassen würde.
Wladimir Putin lässt Alexander Lukaschenko fallen
Der Kreml hat wohl viel weniger Skrupel, Lukaschenko fallen zu lassen, als man denkt. Seit über 20 Jahren sind die beiden Präsidenten Verbündete, Freunde sind sie nie geworden. Mit anderen Worten: Putin hängt nicht an Lukaschenko. Für ihn ist es wichtiger, das Wohlwollen und die Freundschaft des weissrussischen Volkes zu sichern. Auch staatliche russische Medien kritisieren die exzessive Gewalt Lukaschenkos offen. Sollte dieser auf Massenrepressionen setzen, könnte sich Putin schnell genötigt sehen, sich vom Verbündeten zu trennen.
Probleme macht dem Kreml, dass die Opposition praktisch führungslos ist. Die Herausfordererin Lukaschenkos hat sich nach Litauen abgesetzt, dass sie das Land anstelle Lukaschenkos führen könnte, hält man in Moskau für wenig wahrscheinlich. Sie fungiert im Volk als Hoffnungsträgerin, doch hat sie machtpolitisch keinerlei Rückhalt. Da gibt es andere Politiker wie den Oppositionskandidaten und Ex-Banker Wiktor Babariko, diesen gefährlichen Herausforderer hatte Lukaschenko schon im Juni verhaften lassen. Babariko verfügt über Erfahrung und gute Verbindungen. Mit einem nüchternen Mann wie ihm käme Moskau wohl sogar besser klar als mit dem selbstherrlichen Lukaschenko.
Wladimir Putin spielt auf Zeit
Es sind nicht die ersten gefälschten Wahlen und auch nicht die ersten Proteste, mit denen Lukaschenko fertig werden muss – auch wenn sie so gross und breit sind wie noch nie. Sein Abgang ist in den Augen des Kremls noch keineswegs zwingend, zumindest nicht sofort. Es kann noch Monate, vielleicht auch zwei, drei Jahre dauern, bis er fällt.
Die Heftigkeit des Aufstandes hat alle überrascht, auch die russischen Beobachter. Das Vertrauen des Volkes hat der Autokrat in Minsk verspielt, die Herrschaftsstrukturen sind jedoch noch intakt: Keine mächtigen Oligarchen stellen sich gegen Lukaschenko, der Sicherheitsapparat steht auf seiner Seite. Bilder von Polizisten, die Uniformen verbrennen, täuschen nicht darüber hinweg, dass der mächtige Geheimdienst KGB und die Omon, eine Elitetruppe des Innenministeriums, weiter loyal sind.
Und auch wenn er Lukaschenko nicht mag: Für Putin wäre es sicher das Bequemste, wenn noch einmal alles beim Alten bliebe. Denn das würde Moskau Zeit geben, sich für einen Machtwechsel in Minsk in Position zu bringen. Lukaschenko, ein Führer ohne Legitimität, hätte dem Kreml nicht mehr viel entgegenzusetzen.
Wladimir Putin arbeitet mit dem Westen zusammen, um die Eskalation zu stoppen
Für einmal haben Russland und die Europäer das gleiche Ziel: die Gewalt stoppen und eine Lösung des Konflikts auf den Weg bringen. Der Abgang Lukaschenkos wäre dabei eine Möglichkeit, aber nicht zwingend das Ziel. Putin hätte Zeit und die Möglichkeit, sich in die Verhandlungen einzubringen und sie international abzusichern.
Für die Weissrussen wäre diese Lösung die sicherste Variante: Ein Zusammengehen zwischen Ost und West würde Lukaschenko daran hindern, mit beiden Seiten Spielchen zu spielen und nebenbei die eigene Bevölkerung niederzuknüppeln. Denn bisher hat er vom geopolitischen Streit um die Ukraine profitiert: Sein Regime hat die Annexion der Krim durch Russland 2014 nicht begrüsst. Zum Dank hat der Westen 2016 alle Sanktionen aufgehoben, obwohl Lukaschenko keine freien und fairen Wahlen durchführte und massive Gewalt einsetzte gegen alle, die ihm widersprachen.
Gemeinsame Vermittlungen würden zudem einer neuen weissrussischen Regierung, die Lukaschenko eher früher als später ablösen wird, optimale Startchancen bieten. Und die wird alle Hilfe brauchen, die sie kriegen kann, um das Land nach 26 Jahren Stagnation zu reformieren.
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