Prozess in BielDer Spitzel, der im Tiefkühlraum landete
Vier Kurden sollen einen Bekannten gefoltert haben, weil sie ihn der Spionage verdächtigten. Nun kommt der Fall vor Gericht und könnte mit einer Überraschung enden.
Die Geschichte hat alles, was einen packenden Krimi ausmacht: Es geht um einen politischen Konfliktherd, um Bespitzelung, Drohungen und Prügel. Der Fall gipfelt darin, dass ein Mann in einen Tiefkühlraum einer Pizzeria gesperrt wird.
Vier Männer müssen sich ab diesem Mittwoch vor dem Regionalgericht in Biel für die gewalttätige Aktion verantworten. Die Berner Staatsanwaltschaft wirft ihnen Freiheitsberaubung, Nötigung und einfache Körperverletzung vor. Es ist in jeder Hinsicht ein aussergewöhnlicher Fall – nicht zuletzt, weil Opfer- und Täterrollen austauschbar sind.
59 Meldungen an die Türkei
Im Zentrum steht der Abend des 5. Mai 2019: Aydin K. (Name geändert) fürchtet um sein Leben. Seit Stunden wird der kurdischstämmige Türke im Keller einer Seeländer Pizzeria festgehalten. Mehrere Männer schlagen ihn, drohen ihm und sperren ihn schliesslich zwanzig Minuten lang im begehbaren Tiefkühlraum des Lokals ein.
Der 37-Jährige soll gestehen, dass er für den türkischen Geheimdienst arbeite. Dass er den lokalen PKK-Ableger bespitzle. Erst nach dem Geständnis lassen ihn seine Peiniger, die alle der Kurdischen Arbeiterpartei nahestehen sollen, laufen.
So gibt Aydin K. das alles knapp zwei Wochen später, als er Anzeige erstattet, gegenüber der Polizei zu Protokoll. Er beteuert, dass ihn die Männer in der Pizzeria zu einer Falschaussage gezwungen hätten. Auch die vier beschuldigten Kurden bestreiten die Vorwürfe, es habe weder Folter noch Todesdrohungen gegeben. Für alle Betroffenen gilt die Unschuldsvermutung.
So weit, so verworren. Es gibt jedoch nicht unerhebliche Indizien, dass Aydin K. tatsächlich die kurdische Diaspora ausspioniert und dem türkischen Staat rapportiert hat. Die Bundesanwaltschaft jedenfalls ist von seinem Denunziantentum überzeugt und führt ein Strafverfahren gegen den Türken, der seit Jahren als Flüchtling in der Schweiz lebt. Vorgeworfen wird ihm qualifizierter politischer Nachrichtendienst.
Laut Bundesanwaltschaft hat Aydin K. zwischen August 2018 und dem Vorfall in der Pizzeria im Mai 2019 von seinem Wohnort im Kanton Bern aus dem türkischen Sicherheitsapparat insgesamt 59-mal per Whatsapp Informationen über «verschiedene in der Schweiz befindliche Personen» geschickt. Im Wissen, dass er dadurch Leib und Leben dieser Personen gefährdet habe.
Um die delikate Gemengelage zu erkennen, sollte man Folgendes wissen: Die Sicherheitskräfte des türkischen Präsidenten Erdogan gehen im eigenen Land gewaltsam gegen die kurdische Autonomiebewegung vor. Deren politisch-militärischer Flügel – die PKK – wehrt sich mit Guerillamethoden und gilt in vielen Ländern als terroristische Organisation, nicht aber in der Schweiz.
Zudem ist bekannt, dass der türkische Geheimdienst nicht davor zurückschreckt, auch im Ausland gegen Widersacher vorzugehen, wie der Fall der vereitelten Entführung eines türkischen Geschäftsmannes im Jahr 2016 gezeigt hat. Der Mann gehörte der Bewegung des islamischen Predigers und Erdogan-Widersachers Fethullah Gülen an.
Am Flughafen verhaftet
Zurück zu Aydin K. und der Frage, wie er sich plötzlich in einem begehbaren Tiefkühlraum eingesperrt wiederfand. Der Mann arbeitete laut früheren Tamedia-Recherchen als Pizzaiolo in besagtem Seeländer Lokal. Die Pizzeria gehörte einem kurdischen Unternehmer, der seit Jahren in der Schweiz lebt und der einer der Hauptbeschuldigten im Prozess von dieser Woche ist. Er und seine Familie waren im lokalen kurdischen Kulturzentrum aktiv, einem Treffpunkt von PKK-Sympathisanten. In diesem Zentrum verkehrte auch Aydin K. Dass dieser ein Spitzel sein könnte, daran dachte wohl niemand.
Dann kam der März 2019: Der Bruder des kurdischen Pizzeria-Besitzers reiste zur Hochzeit einer Schwester in die Türkei. Doch am Flughafen von Diyarbakir im Süden des Landes wurde er verhaftet. Der Vorwurf: Er arbeite für die PKK und pflege einen engen Kontakt zum PKK-Vorsitzenden von Europa und lasse diesen auch mal bei sich zu Hause übernachten. Später wurde der Mann jedoch wieder aus dem Gefängnis entlassen.
Offenbar war der Auslöser der Verhaftung eine anonyme Denunzierung aus der Schweiz gewesen. Davon geht die Bundesanwaltschaft aus. Der damalige Pizzeria-Besitzer erhielt jedenfalls im Nachgang eine Kurznachricht von einem Informanten in der Türkei. Darin wurde eine Schweizer Mobilnummer erwähnt mit dem Hinweis, dass die Person hinter dieser Nummer besagter Spion sei. Als der Gastronom die Zahlen aus der Türkei in sein Handy eintippte, realisierte er, dass er die Nummer bereits gespeichert hatte: unter dem Namen seines Pizzaiolos.
Alsdann beschlossen er und die Mitbeschuldigten, den angeblichen Verräter in der Pizzeria zur Rede zu stellen. Dort sollen sie die belastenden Kurznachrichten auf dessen Mobiltelefon entdeckt haben. Ob die vier Beschuldigten Aydin K. tatsächlich in brutalster Weise zu einem Geständnis geprügelt haben, wird das Dreiergericht in Biel ab Mittwoch beurteilen müssen.
Sind Beweise nicht verwertbar?
Den Prozess in Biel wird man auch in Bellinzona, dem Sitz des Bundesstrafgerichts, genauestens verfolgen. Denn der Ausgang hat wesentlichen Einfluss auf das Strafverfahren gegen Aydin K. wegen verbotenen Nachrichtendiensts. Aus diesem Grund ist das Verfahren bis dahin sistiert.
Die knifflige Frage dreht sich um das Handy von Aydin K. – beziehungsweise darum, wie es via Pizzeria-Besitzer als Beweisstück bei der Polizei gelandet ist. Laut den Beschuldigten soll Aydin K. beim Verhör das Handy freiwillig herausgerückt haben. Dieser wiederum betont, es sei ihm unter Gewaltanwendung weggenommen worden.
Sollten die vier Kurden schuldig gesprochen werden, stellt sich die Frage, ob die Beweise auf dem Mobiltelefon als Beweismittel zulässig sind, da sie gewaltsam – sprich widerrechtlich – erlangt worden sind.
Daniel Gränicher, der Anwalt von Aydin K., hat dazu eine klare Meinung. Im Falle einer Verurteilung seien die Beweise «in jedem Fall» nicht verwertbar, sagt er auf Anfrage und verweist auf die Bestimmungen im Strafprozessrecht. Laut ihm würde dies aller Voraussicht nach dazu führen, dass das Verfahren gegen seinen Mandanten eingestellt würde.
Anders sieht es die Bundesanwaltschaft. Es liege so oder so keine «unrechtmässige Beweiserhebung» vor, da sich Aydin K. bei Einvernahmen nicht gegen die Auswertung seines Handys gewehrt habe. Sie reichte deshalb Beschwerde gegen die Sistierung des Verfahrens ein. Das Bundesstrafgericht sah es anders und schmetterte die Beschwerde ab.
Laut dem Gericht ist selbst bei einer Verurteilung der vier Kurden unklar, ob die Beweise auf dem Handy verwertbar sind oder nicht. Denn in der Strafprozessordnung heisst es unter Artikel 141: «Beweise, die Strafbehörden in strafbarer Weise (...) erhoben haben, dürfen nicht verwertet werden, es sei denn, ihre Verwertung sei zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich.» Was genau eine schwere Straftat darstellt, ist allerdings nirgends exakt definiert und bleibt demnach schwammig.
Ein Opfer, das in einem parallel laufenden Verfahren auch Täter ist. Ein Täter, der womöglich straffrei davonkommt, weil die Beweise widerrechtlich in den Händen der Polizei landeten – es ist ein aussergewöhnlicher Fall, der am Mittwoch im Bieler Amthaus aufgerollt wird.
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