Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Neue Offenheit 
Prominente stehen zu ihrer Krankheit – macht uns das toleranter? 

Bruce Willis im März 2023 in Santa Monica, Kalifornien. Der Hollywood-Star leidet an Demenz. 
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Krankheit und Öffentlichkeit, das schien lange nicht zusammenzupassen. Die Familie von Bruce Willis aber hat nicht nur öffentlich von seinen Sprachstörungen berichtet. Seine Frau erklärt die Frontotemporale Demenz (FTD) auch regelmässig live auf Instagram, seine Ex-Frau postete zum Geburtstag aktuelle Fotos und Videos, öffentlich zu sehen ist ein früherer Actionheld, gestützt von seinen Liebsten.

Öffentlich zu sehen waren zuletzt auch Selma Blair und Christina Applegate, gestützt von Gehstöcken. Beide Schauspielerinnen haben multiple Sklerose, und beide hatten auf dem roten Teppich nun den Stock als Accessoire dabei. Ihre Auftritte lieferten Bilder, die ganz anders sind als sonst bei solchen Events und doch ähnlich – mit Protagonistinnen, die geschwächt und angegriffen wirkten, aber gleichzeitig stark und elegant. Bei der Met Gala und auf dem Laufsteg zeigte sich Lila Moss, Tochter von Kate, Diabetikerin, mal im halbdurchsichtigen Kleid, mal mit nackten Beinen. Gut sichtbar dabei: ihre Insulinpumpe.

Chronisch krank und dennoch selbstbewusst.

Es scheint sich etwas verschoben zu haben: Chronisch Kranke verstecken sich und ihre Krankheit nicht mehr, sie sind zu sehen, einige treten selbstbewusst auf. Und das, wo es bei Prominenten doch immer um Makellosigkeit geht. Sie zeigen sich als unperfekt im Kreise der Perfekten. Sind Kranke inzwischen einfach selbstverständlicher Teil der Gesellschaft?

Betroffenen und Angehörigen machen prominente Beispiele zunächst einmal einfach Mut. Klar, manche fragen sich, ob erst ein Bruce Willis krank werden muss, damit die Leute etwas von Demenz hören wollen, sagt Beatrix Friedrich, deren Mann ebenfalls daran erkrankt ist und im Pflegeheim lebt. Aber sie findet es uneingeschränkt gut, wenn darüber gesprochen wird. Weil die meisten Menschen diese Erkrankung nicht kennen. Weil sie nicht wissen, dass Betroffene relativ jung sein können, dass sie nicht einfach nur vergesslich sind und Wörter verdrehen, sondern sich auch charakterlich stark verändern.

Ihr Mann erkannte die Nachbarn nicht mehr.

Ihr Mann erkannte irgendwann die Nachbarn nicht mehr, er konnte über Witze nicht mehr lachen, er stellte Bekannten indiskrete Fragen, und an einem Sommertag ging er auf den Sohn los, weil der ihn im Spass nass gespritzt hatte.

«Man muss ganz viel erklären», sagt Friedrich. Das könnte sich ändern, wenn die Frontotemporale Demenz bekannter wird. Sie hofft durch mehr Aufmerksamkeit auch auf mehr Forschung. Bislang gibt es bei der Diagnose keine Heilung und keine Verbesserung.

Öffentlich zu machen, dass man krank ist, kann eine befreiende Wirkung haben. Betroffene sprechen manchmal davon, dass sie sich «outen», ganz so, als ginge es um Homosexualität. Sie sehnen sich nach Offenheit und Normalität und wollen sich als jene zeigen, die sie sind. Egal, ob sie nun in der Versicherungsbranche arbeiten oder in Hollywood. Alles wunderbar authentisch also?

Öffentliches Kranksein muss man sich leisten können

Anruf bei Carola Studlar, die als Agentin zahlreiche Schauspielerinnen und Schauspieler vertritt. Ihrem Eindruck nach ist auch in der deutschsprachigen Branche die Bereitschaft zur Offenheit gestiegen. Trotzdem würde sie nur bedingt dazu raten, die eigene Diagnose öffentlich zu machen. Schliesslich geht es um die berufliche Existenz. Schauspieljobs sind hart umkämpft und erfordern viel Einsatz, man muss wochenlang verfügbar sein, Sport machen, Text lernen, körperlich und psychisch belastbar sein. Wer sich da als krank präsentiert, muss befürchten, keine Aufträge mehr zu bekommen.

Auf den ersten Blick gibt es wohlwollende Reaktionen für Betroffene, in den Kommentarspalten ist von Respekt die Rede, von der Vorbildfunktion, davon, dass man ihre Stärke bewundere. Aber Studlar sagt: «Öffentliches Kranksein muss man sich leisten können.» Hollywoodstars dürften sich da leichter tun als andere.

Die Schauspielerin Christina Applegate und ihre Tochter Sadie Grace im Februar 2023 an einer Preisverleihung in Los Angeles.  

Wie aktiv man sich selbst als krank präsentieren kann, hängt auch von der Diagnose ab. FTD-Kranke sind oft mit fortschreitendem Verlauf nicht mehr in der Lage, Entscheidungen selbst zu treffen. Was ist, wenn Bruce Willis nicht mehr steuern kann, welche Bilder von ihm auf Instagram erscheinen?

Christina Applegate drehte 2021 noch die finale Staffel der Serie «Dead to Me» fertig, fuhr im Rollstuhl ans Set, stützte sich vor der Kamera möglichst unauffällig an Türrahmen ab. Keine zwei Jahre später sagte sie US-amerikanischen Medien, dazu sehe sie sich inzwischen nicht mehr in der Lage. Sie wisse auch nicht, ob sie noch mal auf dem roten Teppich zu sehen sein werde.

Krebskranke waren die Pioniere

Dass Menschen überhaupt selbst über die eigene Krankheit sprechen, hat sich in den 1970er-Jahren entwickelt, als vor allem unter Krebskranken Selbsthilfegruppen entstanden. Zuvor machten überwiegend Ärzte die Ansagen, teils enthielten sie den Betroffenen ihre Diagnosen sogar vor. Dann aber wurden Patientinnen und Patienten selbstbestimmter, und sie forderten, dass sie bei grösseren Eingriffen aufgeklärt werden und zustimmen müssen.

Nun gehen Kranke weiter, sie reden nicht nur über ihr Leiden, sie wollen auch so sichtbar sein wie viele andere gesellschaftliche Gruppen. Mit dem gewichtigen Unterschied, dass jeder krank werden kann. Die Schriftstellerin Susan Sontag beschrieb es in «Krankheit als Metapher», ihrem berühmten Essay von 1977, so: «Jeder erhält, wenn er geboren wird, eine doppelte Staatsangehörigkeit, eine im Königreich der Gesunden und eine im Königreich der Kranken.» Alle wollten nur den einen, den guten Pass verwenden, seien aber früher oder später gezwungen, sich zumindest für eine Weile als Bürger dieses anderen Ortes zu identifizieren.

Beim Kranksein geht es also nicht um eine Minderheit – sondern um eine Mehrheit. Weil alle mal eine Grippe haben, weil jeder chronisch krank werden kann, weil jeder älter wird. Und weil die Gesellschaft als Ganzes älter wird. Gehstöcke auf dem roten Teppich sind auch ein Stück Zukunft.