Tumulte in LeipzigPolizei lässt «Corona-Rebellen» freie Hand
Mitten in der Pandemie haben in Leipzig 45’000 Menschen ohne Masken und Abstand demonstriert. Neonazis griffen Polizisten, Linke und Journalisten an.
Es waren gespenstische, ja erschreckende Szenen, die sich am Samstagabend in Leipzig zutrugen: Hunderte Neonazis und Hooligans warfen Pyros und Flaschen auf Polizisten, die sich ihnen entgegenstellten, und durchbrachen schliesslich deren Ketten. Danach begannen sie in der Innenstadt gezielt Journalisten und linke Gegendemonstranten zu verfolgen, ohne dass jemand sie daran hinderte.
Die Staatsgewalt war in diesem Moment sichtlich überfordert. Sie liess es zu, dass hinter den Rechtsextremisten Zehntausende von Gegnern der behördlichen Corona-Politik auf den symbolträchtigen Ring strömten, wo 1989 die Leipziger mit ihren Demonstrationen das Ende der DDR eingeläutet hatten.
«Wenn das nicht wie 89 ist, dann weiss ich auch nicht», jubelte danach ein führender Aktivist der selbst ernannten «Querdenker» in einer Videobotschaft. Andere Beobachter fühlten sich eher an die Tumulte in Chemnitz vor zwei Jahren erinnert, als die sächsische Polizei ebenfalls nicht in der Lage gewesen war, absehbare Ausschreitungen von Neonazis und Hooligans zu verhindern.
Dabei hatten die Proteste der «Corona-Rebellen» recht friedlich begonnen. Aus ganz Deutschland war die mittlerweile bekannte Mischung aus Esoterikern, Impfgegnern, Verschwörungsanhängern, Reichsbürgern und Rechtsradikalen zusammengeströmt, um gegen die angebliche «Corona-Diktatur» und die Einschränkung ihrer Freiheit zu demonstrieren. Niemand trug Maske, niemand hielt Abstand, so ging es zweieinhalb Stunden.
Als die Polizei die Demonstration mit Hinweis auf die nicht eingehaltenen Hygieneregeln auflösen wollte, kam es zum Marsch auf den Ring. Die Neonazis, die bei früheren Protesten die «Querdenker»-Bühne eher für ihre eigenen Zwecke genutzt hatten, dienten diesmal gezielt als Rammbock: Sie sprengten die Polizeikette, durch die danach Tausende strömten.
Nach dem Willen der Leipziger Stadtregierung hätte die Demonstration am Stadtrand stattfinden sollen, bei der Neuen Messe. Das sächsische Oberverwaltungsgericht erlaubte die Versammlung jedoch kurzfristig in der Innenstadt – unter Auflagen allerdings: nicht mehr als 16’000 Demonstranten, kein Marsch. Die Organisatoren hatten von Anfang an nicht die Absicht, die Bedingungen einzuhalten. Nach Schätzungen von Forschern der Uni Leipzig demonstrierten «mindestens 45’000 Menschen». 2700 Polizisten erwiesen sich als viel zu wenige.
Die sächsische Regierung reagierte am Sonntag sichtlich erschrocken auf die Tumulte. Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) sagte, der überwiegende Teil der Menschen in Deutschland habe angesichts der Gefahren der Pandemie kein Verständnis für solche Proteste. Innenminister Roland Wöller (CDU) gab dem Gericht die Schuld: Eine solche Demo hätte in der Innenstadt niemals genehmigt werden dürfen. Die Passivität der Polizei verteidigte er als gewollt: Es sei schlicht «nicht angezeigt» gewesen, eine mehrheitlich friedliche Demonstration gewaltsam zu stoppen. Über die An- und Übergriffe von Rechtsextremen verloren weder Kretschmer noch Wöller ein Wort.
Die Linkspartei und die Grünen, Letztere immerhin Teil der sächsischen Regierung, forderten Wöllers Rücktritt. Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) war «stinksauer» und forderte neue Regeln für städtische Demonstrationen in Zeiten der Seuche.
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) verurteilte die Angriffe gegen Polizei und Presse und nannte die «Verhöhnung der Wissenschaft», die bei den «Querdenkern» grassiere, genauso «abscheulich» wie die «rechtsextreme Hetze», die offensichtlich geduldet werde. Allerdings verlangte sie auch von der Polizei, das staatliche Gewaltmonopol zu verteidigen, die Corona-Regeln durchzusetzen und «marodierenden Gewalttätern nicht das Feld zu überlassen».
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