So liest sich «Morgengrauen»Philippe Djian und das Wetter
In seinem neuen Werk beackert der französische Bestsellerautor einmal mehr Themen wie Eifersucht, Familie und Freundschaft. Seine Schilderung der Naturgewalten war aber schon beeindruckender.

Joan ist Edelprostituierte. Weil ihre Eltern verstorben sind, zieht sie zu ihrem Bruder Marlon, einem Autisten. Und der verliebt sich bald schon in die etwas ältere Ann-Margaret, die ihn eigentlich beaufsichtigen sollte. Schliesslich ist da noch Howard. Er hatte zuvor offenbar mit der toten Mutter eine Affäre – und Joan bucht er nun für ihre Dienstleistungen.
Da haben wir es wieder, das eng geflochtene Figurenkabinett, mit dem Autor Philippe Djian das Zwischenmenschliche zu untersuchen pflegt. Es beschäftigen ihn in «Morgengrauen» noch immer dieselben Thematiken wie vor rund vierzig Jahren, als er nachts als Angestellter an einer französischen Autobahnzahlstelle zu schreiben begann: Wie stark treibt uns die Sexualität an? Wie geht man mit flammender Eifersucht um? Ist sie stärker als Freundschaft und Familienbande?
Wo sind die lähmenden Schneefälle, die aufreibenden Hitzetage?
Und doch fehlt was. Der Autor von «Betty Blue – 37,2 ° am Morgen» und zeitweiliger Texter von Stephan-Eicher-Songs setzt weniger als auch schon auf die Naturgewalten. Zwar bekommen wir mit, dass die Geschichte während der Schneeschmelze einsetzt. Und wir erleben, wie allmählich der Sommer in der ländlichen Gegend Einzug hält: «Bei geöffnetem Fenster konnte sie den Kauz hören oder auch Eichhörnchen, die über die Terrasse liefen.» Doch wirkt das alles ziemlich leblos, was umso mehr auffällt, als die Geschichte keinen Icherzähler hat.
Wo sind die lähmenden Schneefälle, die alles verändernden Gewitter und die aufreibenden Hitzetage? Wo es doch früher eine von Djians grossen Stärken war, aus Wetterkapriolen (und Tiererscheinungen übrigens auch) die Handlung antreibende Nebendarsteller zu machen? Diesmal bleiben sie im Hintergrund, und ebenso fehlen: Drogenexzesse, Flirts und Bettszenen, die man von einem «echten Djian» einfach erwartet.
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Erschwerend kommt hinzu, dass sich das – einmal mehr – drastische Ende allzu erwartbar ankündigt. Zudem ist man danach angesichts all der offenen Fragen etwas ratlos: Wieso spielt die Geschichte ausgerechnet in den USA? Wieso wird eine der Callgirl-Kolleginnen Joans von einer Männergruppe vergewaltigt? War der tote Vater nun Betrüger oder Umweltaktivist? Ergab in früheren Geschichten des inzwischen 71-Jährigen zuletzt alles überraschend einen Sinn, bleibt hier vieles vage. Es scheint, als hätte der französische Autor seinen Roman nicht zu Ende gedacht, das Werk bleibt Skizze.
Immerhin: Verlangte es beim letzten Roman «Marlène» noch zu viel Aufmerksamkeit auf Leserseite, weil der Autor seit diesem Buch komplett auf Anführungs- und Fragezeichen verzichtet, hat Übersetzerin Norma Cassau die Dialoge diesmal so gestaltet, dass man ihnen bestens folgen kann. Und deshalb will man Djian-Fans auch nicht davon abraten, diesen eher kurzen Roman zu lesen. Für Einsteiger allerdings sei weiterhin «Oh…» empfohlen, das von Paul Verhoeven 2016 unter dem Titel «Elle» mit Isabelle Huppert verfilmt wurde. So schnell, prall und erschlagend ist «Morgengrauen» leider nicht geworden.

Philippe Djian: «Morgengrauen». Diogenes Verlag, Zürich 2020. 256 S., ca. 33 Fr.
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