Die Spiele von 1900Sie wurden Olympiasieger – und erfuhren es nie
Baron Pierre de Coubertin plante einst, die ersten Spiele in Paris mit Glanz und Gloria zu feiern. Es kam ganz anders – Sportgeschichte wurde trotzdem geschrieben.
Das Vélodrome Jacques Anquetil im Bois de Vincennes wirkt fast etwas verwunschen. Doch im alten Radstadion ist an diesem sonnigen Nachmittag nicht nur das Gezwitscher der Vögel zu hören. Ein paar ältere Rennradfahrer drehen tapfer ihre Runden auf der Bahn. Später trudeln die Spieler zweier Rugbymannschaften ein, um sich gemächlich auf ihr Spiel vorzubereiten.
Das Stadion am Rand des grössten Parks von Paris, ganz im Osten gelegen, ist eine Legende des Radsports – und es gehört zu den wenigen Orten in Paris, die an ein Unikum in der Geschichte der Olympischen Spiele der Neuzeit erinnern: an die Spiele von 1900. Die, so befindet der französische Historiker Pascal Ory, in einem bestimmten Sinn gar nicht stattgefunden haben.
Am 23. Juni 1894 erreichte der engagierte Sportfunktionär Pierre de Coubertin auf einem Kongress in Paris die Neugründung Olympischer Spiele – als Verbindung moderner «englischer» Sportarten mit dem antiken Mythos und Vierjahresrhythmus. Doch da hatte er schon die erste Niederlage hinter sich. De Coubertin hatte versucht, den Leiter der Jahrhundert-Weltausstellung von 1900 in Paris, Alfred Picard, davon zu überzeugen, die neuen Spiele als prominenten Teil der Expo zu veranstalten.
Aber Picard hatte selbst schon «Internationale Wettbewerbe für Leibesübungen und Sport» vorgesehen und war nicht bereit, einem Konkurrenzprojekt, das er als «Anachronismus» ansah, einen Sonderstatus einzuräumen.
Jekami-Spiele weit ausserhalb von Paris
Daran änderte sich auch nichts, nachdem 1896 in Athen ein erstes Mal moderne Olympische Spiele erfolgreich abgehalten worden waren. Am Ende musste de Coubertin akzeptieren, dass die von ihm für 1900 geplanten, grossartigen Wettbewerbe nur als unauffälliger Teil der Sportveranstaltungen an der Weltausstellung möglich waren. Sie sollten später als «Spiele der II. Olympiade» gezählt, aber nicht so genannt werden – und fanden oft weit ausserhalb der Stadt vor nur wenigen Zuschauern statt.
Damit waren die jungen Spiele in der Weltausstellung versenkt worden, in einem Mischmaschprogramm über fünfeinhalb Monate, das aus Wettbewerben für Brieftaubenflüge, Drachensteigen, Ballonwettfahrten, Auto- und Motorbootrennen, Boule oder Angeln – mit jeweils Tausenden Teilnehmern – bestand. Dazu kamen nationale, schulische und sogar militärische Wettkämpfe wie Kanonenschiessen.
Erstmals durften Frauen teilnehmen
Dennoch wurde 1900 Sportgeschichte geschrieben. So durften erstmals Frauen an den internationalen Wettbewerben teilnehmen – wenn auch nur 22 Sportlerinnen unter insgesamt 997 Teilnehmern. Selbst das aber entsprach nicht den patriarchalischen Idealen Coubertins, der sich während der ihm entglittenen Sportwettbewerbe auffallend zurückzog und sich nur einmal beteiligte: als leitender Kampfrichter für Leichtathletik.
Die dazu zählenden Disziplinen wurden von den US-Amerikanern dominiert, die vor allem mit Hochschulteams vertreten waren. Der 24-jährige Student Alvin Kraenzlein, der eine neue Technik für den Hürdenlauf entwickelt hatte, schaffte vier Olympiasiege und wurde zum Star der Spiele.
Für Frauen gab es offizielle Wettbewerbe im Tennis, wo auch gemischte Doppel gespielt wurden, und beim Golf. Für Krocket hatten sich mehrere angemeldet, dann aber nicht teilgenommen. Als Begleitung akzeptiert wurden sie unter anderem in den Segelwettbewerben, bei denen auch zum ersten Mal eine Frau an einem Olympiasieg beteiligt war. Auf dem Boot des Neuenburgers Hermann de Pourtalès fuhr unter anderen seine Frau mit.
Die 32-jährige, gebürtige Amerikanerin Helene de Pourtalès war eine erfahrene Seglerin, die in den USA, am Genfersee und in Cannes an Regatten teilgenommen hatte. Wie damals üblich, wurde nach dem Rennen für Boote zwischen einer und zwei Tonnen, das auf der Seine bei Meulan, 40 Kilometer westlich von Paris, stattfand, nur der Steuermann des siegenden Bootes ausgezeichnet. Also Hermann de Pourtalès.
Herausragende Schweizer Schützen
Statt Medaillen wurden damals vor allem Skulpturen vergeben. Bei den Schützen gab es teils wertvolle Sachpreise zu gewinnen, darunter einen goldenen Chronometer im Wert von 1200 Francs, gestiftet von der «Schweizer Kolonie von Paris». Dass die Schweizer Schützen mit ihren fünf ersten Plätzen und einem zweiten bei den Wettbewerben für Armeewaffen in einer Kaserne in Versailles Olympiasieger geworden waren, erfuhren sie erst 1901.
Andere erfolgreiche Teilnehmer, etwa die Gewinnerin im Golfwettbewerb für Frauen, Margaret Abbott, sollen zeitlebens nicht gewusst haben, dass sie damals Olympiasiege errungen hatten.
Es hat auch ein bisschen gedauert, bis klar war, welche der 477 Wettbewerbe der Weltausstellung von 1900 offiziell als olympisch anerkannt werden. Fast hundert Jahre später wurde unter Sporthistorikern noch darüber diskutiert. Inzwischen hat das IOK nachträglich 95 Wettbewerbe als olympisch und damit die Siegerinnen und Sieger anerkannt. Darunter Krocket oder Pelota, ein baskisches Rückschlagspiel.
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